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Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters

Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters

Titel: Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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allein zu sein mit dem Wüstensand und dem Himmel, sprach plötzlich eine Stimme zu ihm. Es war eine leuchtend blaue Schlange, die zu ihm sprach. Er erzählte ihr von seinen Nöten und die Schlange erklärte lächelnd, dass sie wohl eine Möglichkeit wüsste, wie er seinen Weg für immer verlassen könne. Der Schreinersohn fragte, wie das möglich sei, und die blaue Schlange sagte, dass er für diesen Dienst einen Preis bezahlen müsse. Welchen Preis?, fragte der Schreiner hastig. Der Weg ist der Preis, antwortete die Schlange und als er nicht gleich verstand, fügte sie hinzu, er müsse sich von ihr beißen lassen – nur einmal! –, dann wäre er die lästige Straße los.
    Da begriff der Schreinersohn. Er achtete nicht weiter auf die Schlange, sondern machte kehrt und eilte in die Stadt zurück. Er wusste nun, was er zu tun hatte! Er suchte sich eine andere Stadt, wo man ihn noch nicht kannte, ließ sich dort nieder, wurde Schreinermeister und gründete eine glückliche Familie.
    Die Schlange jedoch zog sich in ihr Sandloch zurück und sprach zu sich: Was soll’s. Es werden noch viele kommen, die einen neuen Weg suchen und die den Preis dafür zahlen werden.
    Den Schluss seiner Geschichte hatte der Erzähler mit gespitzten Lippen und zischendem Laut geflüstert, er war in sich zusammengesunken wie die blaue Schlange in ihrem Loch. Zwischen den Zelten herrschte völlige Stille, trotz der vielen Menschen. Nur das Lagerfeuer, das nach dem Untergehen der Sonne entfacht worden war, knisterte und knackte ab und zu.
    Dann brandete tosender Beifall auf, so vielfältig wie zuvor, als der Erzähler den Platz betreten hatte, und doppelt so stark. Aber diese kurze Geschichte war, so wollte es die Tradition, nur der Auftakt eines langen Abends voller Erzählungen. Es war eine Geschichte, die jeder Zuhörer kannte und an der jeder Erzähler seine Kunst beweisen musste, weil vor ihm schon ein anderer und vor diesem wieder einer da gewesen war. Jeder dieser Vorgänger hatte dem alten, immer wiederkehrenden Thema seine eigene, unverkennbare Handschrift verliehen und sich in eine lange Kette anderer Meister eingereiht. Und dennoch waren die Zuhörer immer wieder gefesselt und gebannt.
    Doch nicht alle Anwesenden waren ganz bei der Sache. Drei junge Männer, einer von ihnen fast noch ein Kind, dachten ans Gehen, obwohl auch sie sich dem Zauber des Erzählers nicht hatten entziehen können. Und dann war da noch ein vierter, dessen Aufmerksamkeit nicht dem Erzähler und seiner Geschichte galt, sondern rastlos an diesem vorbeiwanderte, vorbei auch am Lagerfeuer und hinein in die Menge gespannter Gesichter, bis sie schließlich an dem eines dreizehnjährigen Knaben haften blieb.
    »Gimbar!«, flüsterte Yonathan. Genau wie am Nachmittag drehte er sich so unauffällig um, wie die Aufregung und der Schreck es ihm erlaubten. »Da ist er wieder!«
    »Du meinst…?«
    »Ja, der Einäugige.«
    Gimbar schaute suchend über Yonathans Schulter. Bis er etwas entdeckte. »Ason«, zischte er. »Er ist es tatsächlich! Ich wette, er ist nicht allein hier, nachdem er euch heute Nachmittag entdeckt hat. Wenn er seinen Kumpanen jetzt ein Zeichen gibt, sind wir verloren.«
    Auch Yomi hatte inzwischen mitbekommen, worum es ging. Ein flüchtiger Blick auf den einäugigen kleinen Beobachter hatte genügt, um ihm den Ernst der Lage bewusst zu machen. Er hielt sich hüstelnd die Hand vor den Mund und flüsterte: »Was sollen wir tun? Selbst wenn es auf der Straße nach Norden dunkel ist, können wir nicht einfach aufstehen und uns aus dem Lager stehlen. Vermutlich hätten wir unheimlich schnell eine ganze Horde solcher Zwerge hinter uns.«
    Gimbar knetete seine Nase. »Wir müssten ihn irgendwie ablenken…«
    Plötzlich fiel Yomi in den nicht nachlassenden Beifall für den Geschichtenerzähler ein. Yonathan wusste nicht, was er davon halten sollte, als Yomi auch noch zu schreien begann: »Und die Moral? Was ist die Moral, die uns Eure Geschichte lehrt?«
    Gimbar hatte das Vorhaben des blonden Gefährten sofort verstanden. »Yonathan, Yomi hat Recht!«
    »Ich verstehe nicht.« Yonathan wurde immer unruhiger. Der Lärm der Menschen um ihn herum, nicht zuletzt der Yomis, dröhnte in seinen Ohren. Er hatte das Gefühl, er säße auf einem Ochsenkarren, der ohne Zugtiere laut polternd einen Abhang hinunterraste.
    »Ihr fragt nach der Moral, die meine Geschichte lehrt?«, rief der grauhaarige Erzähler laut und in dem altbekannten, stets gleichen Wortlaut.
    »Es

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