Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
Gimbar.
»Weiter!«, fiel Yomi mit ein.
»Jeder soll seinen Schritt selber lenken. Aber er soll nicht, um Reichtum, Ansehen oder Macht zu erlangen, etwas sein wollen, das er nie werden kann. Wer das versucht, kann daran zugrunde gehen. Wer selbstgenügsam und vernünftig handelt, wird auch auf seinem Weg glücklich werden. Und auch andere Menschen glücklich machen!«
»Willkommen im Kreis der großen Denker Neschans!«, gratulierte Gimbar.
»Das meiste von dem, was ich gesagt habe, stammt aus dem Sepher Schophetim. Man muss es nur erst mit der Geschichte in Verbindung bringen.«
»Tatsächlich? Ich glaube, ich muss mich auch mal wieder etwas mehr mit dem Sepher beschäftigen. Jedenfalls ist einiges dran an dieser Geschichte von dem jungen Schreiner, auch ohne Zuhilfenahme der alten Schriften«, knüpfte Gimbar an das ursprüngliche Thema an. »Manche denken, Erfolg bei Hofe oder in der kaiserlichen Armee sei das Höchste. Doch wenn sie dann Reichtum und Ansehen erworben haben, dann sind sie oft allein oder krank und erschöpft und können die Früchte ihrer harten Arbeit nicht mehr genießen. Zwar soll man gute Arbeit leisten und sich des Lohns dafür erfreuen, aber man sollte die Kosten für jeden Schritt überdenken. Denn ein Irrweg kann sich schnell als ein tödlicher Schlangenbiss erweisen.«
»Schade, dass dir in Meresin keine Zeit blieb selbst die Tugend zu verkünden.« Die Geschichte vom Sohn des Schreiners hatte in Yonathan eine Saite angeschlagen – und diese vibrierte immer noch. Der junge Mann mit dem Stab seines Vaters, der seinen Weg ging, manchmal zweifelte, doch am Ende die lebende Straße, die Straße des Lebens, erfolgreich meisterte… Auch er, Yonathan, war ein solcher Sohn. Er hatte einen Stab – Haschevet – von dem Vater erhalten, von Yehwoh, dem höchsten, liebevollsten Vater überhaupt. Und er hatte einen Weg zu gehen, einen Auftrag zu erfüllen. Doch wie verwinkelt auch sein Weg bisher gewesen war, er hatte ihn noch nicht verlassen, ob dieser Weg nun durch das Verborgene Land führte oder ein »Pfad über das Meer« war, Rakk-Semilath, wie die Behmische sagten. Nun, er selbst würde niemals diesen Weg aus freien Stücken verlassen. Nein, das würde er bestimmt nie tun.
Yonathan wusste, dass er diesen Entschluss schon vor vielen Wochen getroffen hatte.
»Das unheimlich viele Grün dort vorne, das ist das Cedan-Delta«, verkündete Yomi mit der erfahrenen Stimme eines Fremdenführers.
»Schon?« Yonathan dachte an die Unterhaltung mit Galal vor sechs Tagen. Jetzt hieß es also Abschied nehmen. Kaum mehr als zwei Wochen waren er und seine Freunde auf dem Rücken des Traumfeldes durch den Golf von Cedan geritten und doch erschien es ihm wie eine Ewigkeit. Vielleicht deshalb, weil er durch Galal die alte Geschichte der Behmische kennen gelernt hatte; möglicherweise verstärkte auch der Keim Din-Mikkiths diesen Eindruck; wie auch immer, Yonathan war wieder ein Stück gewachsen. Nicht nur körperlich – er war inzwischen vierzehn Jahre alt geworden –, sondern auch geistig. Die Begegnung mit Wesen wie Din-Mikkith und Galal und die Gemeinschaft mit neuen Freunden wie Yomi und Gimbar hatten ihn reifen lassen. Aber auch Yomis abergläubische Furcht vor den Geistern und Göttern der Seeleute war gewichen. Und Gimbar, von Natur ohnehin nachdenklich und bedächtig, hatte sein Leben mit den Piraten, ihr Denken und ihre Vorstellungen inzwischen weit, weit hinter sich gelassen.
Yonathan seufzte. Heute würde er sich von Galal verabschieden müssen. Und in einer Woche vielleicht schon von Yomi und Gimbar? Der Gedanke erschien ihm unfassbar, aber möglich war das schon. In der Nacht nach der Flucht aus Meresin hatte Gimbar Yomi berichtet, dass er an den Kais ein Gespräch belauschen konnte, in dem sich zwei Seeleute über ein Handelsschiff unterhielten, das zwanzig Tage zuvor schwer beschädigt in den Hafen von Cedanor eingelaufen war. Das Schiff hatte seine gesamte Ladung verloren, aber die Besatzung hätte bis auf ein oder zwei Mann überlebt, erzählte der eine dem anderen. Für Yomi stand sofort fest, dass es sich nur um Kaldeks Weltwind handeln konnte.
Eine sternenlose Nacht hatte die Welt verschluckt. Nur ein Gebiet von der Größe eines Kornfeldes leuchtete in schwachem Grün. Ringsum gab es nur pechschwarzes Wasser
– und den leicht dümpelnden Körper der Mücke. Yomi und Gimbar saßen allein in dem kleinen Segelschiff. Sie warteten auf Yonathan.
Mit schwerem Herzen begann
Weitere Kostenlose Bücher