Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
des Schreiners Sohn.«
Ason konnte nicht widersprechen. Ihm blieb nur eines: seinen Vortrag so kurz wie möglich zu halten, um von der Menge jubelnd entlassen zu werden. Erst dann konnte er seine Männer alarmieren.
Mit düsterer Miene ließ der Einäugige sich von dem Geschichtenerzähler in die Mitte des Kreises ziehen und erhob seine erstaunlich tiefe Stimme, um die Tugend zu verkünden.
Yonathan hätte gern diesen Worten zu der ihm unbekannten Geschichte gelauscht. Doch er und seine Gefährten waren längst in die Dunkelheit entschwunden.
»Ob wir sie abgehängt haben?«, keuchte Yonathan atemlos. Sein Herz raste, und er hatte Seitenstechen.
»Das ist jetzt schon fast egal«, antwortete Yomi. »Selbst wenn sie nur einen Bogenschuss weit hinter uns sind, werden sie uns nicht mehr kriegen. Ich glaube nicht mal, dass sie diesen Höhleneingang hier finden werden. Und wenn wir erst mal untergetaucht sind…«
Gimbar stöhnte.
Die Fliehenden hatten die drei Meilen vom Stadttor bis zur Klippe im Dauerlauf zurückgelegt. Zwischen verdorrten Stachelsträuchern und wildem Felsgewirr waren sie die Anhöhe emporgestürmt, die auf der anderen Seite steil zum Meer abfiel. Oben angekommen, räumten sie hastig das Geröll beiseite, das den Höhleneingang verbarg; in der Dunkelheit ein recht mühseliges Unterfangen. Fledermäuse und auch Galal fanden sich hier wohl besser zurecht. Während sie noch den Eingang verschlossen, hörte Yonathan schon Galals Stimme.
»Yonathan, da bist du ja wieder!« Die Gedanken des riesigen Wesens schienen Freude und auch Sorge auszudrücken. »Geht es dir gut?«
»Es war ziemlich aufregend.«
»Du hast sehr viel Lärm gemacht.«
Yonathan überlegte, was Galal meinen konnte.
»Als du dieses Gesicht gerufen hast. Bestimmt haben es alle Galals auf Neschan gehört!«
»Ason?« Yonathan hatte gerade die Mücke auf Galals Rücken bestiegen und ließ sich erstaunt niedersinken. »Hast du etwa sein Gesicht gesehen, als ich es dem Geist des Geschichtenerzählers zeigte?«
»Ein Geschichtenerzähler?«
»Ja, jemand, der Geschichten erzählt. Ich wollte, dass er diesen Ason auswählt. Er sollte… ach, das ist eine lange Geschichte.«
»Oh! Ich liebe Geschichten.«
»Ich mach dir einen Vorschlag, Galal. Du bringst uns so schnell wie möglich wieder auf Kurs nach Cedanor und ich erzähle dir die Geschichte.«
»Du hast ihm was?«
»Ich habe Galal die Geschichte von dem Sohn des Schreiners erzählt. Sie hat ihm sehr gefallen.«
Yomi schüttelte den Kopf. »Ich werde aus dieser Riesenqualle nicht schlau.«
Die Mücke bebte, schaumiges Wasser spritzte an Bord.
»Ich wäre mit meinen Äußerungen ein bisschen vorsichtiger«, meinte Yonathan. »Galal sagt, dass es jeden Tag ein paar Schiffsladungen Quallen frisst. Wenn sich mal keine finden, nimmt es zur Not auch Segelschiffe oder Menschen…«
»Schon gut, schon gut«, sagte Yomi schnell. »Ich vergesse nur immer wieder, dass dieses große Etwas da unter uns einen Verstand haben soll wie wir Menschen.«
»Mal was anderes: Könnt ihr mir die Moral erklären?«
»Die was?«
»Na, den Sinn von der Geschichte über den Sohn des Schreiners. Du und Gimbar, ihr kennt euch doch so gut aus mit den Geschichtenerzählern und ihren Sitten.«
»Ganz einfach, Yonathan«, sagte Gimbar. »Denke an die Worte der Schlange. ›Der Weg ist der Preis.‹«
»Aber die Schlange wollte ihn doch beißen. Das hätte ihn sein Leben gekostet. Das würde ja bedeuten, dass…« Yonathan ging ein Licht auf.
»… das Leben der Weg ist?«, vollendete Gimbar den Satz. »Fast, Yonathan. Du bist ganz nah dran.«
»Ist die Straße etwa nicht der Lebensweg?«
»Doch, schon. Aber das ist noch nicht der Sinn.«
»Ich kann meinen Lebensweg nicht verlassen. Wenn ich es tue, muss ich sterben«, überlegte Yonathan. »Soll das heißen, unser Lebensweg ist vorgezeichnet? Ich glaube nicht daran, dass unser Leben vom Schicksal bestimmt wird…«
»Heiß, ganz heiß«, unterbrach Gimbar das Rätselraten. »Aber es hat nichts mit dem Schicksal zu tun. Denke daran, dass der Schreinersohn seinen Schritt selbst bestimmen konnte. Nicht er ist der Straße gefolgt, sondern sie ihm.«
»Nur wenn er sozusagen gewaltsam die Straße verlassen wollte, dann musste er feststellen, dass das für ihn nicht gut war. Oder ihn sogar das Leben kosten könnte.«
»Gleich hast du’s«, sagte Yomi.
»Man soll nicht mehr tun wollen, als wirklich gut ist?«
»Ja, gut!«, freute sich
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