Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
Nordregion, bis nach Kitvar, führt, dachte Yonathan in einem Anflug von Heimweh.
Er und seine Freunde aßen schon wieder; diesmal eher, um nicht aufzufallen und um die Zeit totzuschlagen. Sie saßen mit vielen anderen Menschen in einem Rondell aus staubbedeckten Zelten und knabberten lustlos an Spießen, auf denen knusprig gebratene Tierchen steckten, die zwar nicht schlecht schmeckten, über deren Art und Herkunft Yonathan aber lieber nicht nachdenken wollte.
Im Westen ging die Sonne gerade zur Ruhe. Die Menschen versammelten sich zu dieser Stunde, um einem Ereignis beizuwohnen, das ein fester Bestandteil ihres Lebens war. Diejenigen, die im Mittelpunkt dieses Ereignisses standen, waren begnadete Künstler. Sie verstanden es, Abend für Abend die Leute immer wieder aufs Neue zu verzaubern. Selbst Könige hatten sie um den Schlaf gebracht, ohne dafür bestraft zu werden. Im Gegenteil! Die Geschichtenerzähler genossen höchstes Ansehen.
Wenn sie erzählten, nahmen sie ihre Zuhörer mit auf Reisen in ferne Länder, in weit zurückliegende Zeiten. Mit lebendiger Stimme, die sich hob und senkte, mal schnell, dann wieder langsam, bezauberten diese Männer ihr Publikum, als würden sie kunstvoll ein Musikinstrument spielen.
Viele dieser Erzähler, die übrigens die Bezeichnung »Märchenerzähler« entschieden ablehnten, reisten von Ort zu Ort. Um die Leute anzulocken, eröffneten sie ihre Vorstellungen nicht selten mit Kunststücken, bei denen man auch die Geschicklichkeit ihrer Körper und Hände bewundern konnte. Dies war sehr wichtig für einen guten Geschichtenerzähler, denn neben der Stimme waren auch die Gesten, Gebärden und das Mienenspiel, die die Geschichten begleiteten, weitere Mittel, um jenen Zauber hervorzurufen, der die Menschen Zeit und Raum vergessen ließ.
Als ein alter Mann nun zwischen die am Boden sitzenden Menschen trat, verstummte schnell das Gemurmel. Er trug einen langen, ärmellosen, braunen Wollmantel und darunter ein ebenso langes Hemd aus hellem Leinen. Sein weißes Haar stand in widerspenstigen Strähnen nach allen Seiten ab und ein langer wallender Bart umrahmte ein gutmütiges Großvatergesicht.
»Ich will euch eine Geschichte erzählen«, begann er mit geheimnisvollem Tonfall und obwohl man diese Einleitung erwartet hatte, löste sie doch lauten Beifall aus. Die Menschen klatschten in die Hände oder pfiffen aufgeregt; einige, die wohl aus der fernen Ostregion hierher gekommen waren, saßen bewegungslos da, riefen dafür aber umso lauter »Hört, hört!« und »Auf, weiser Mann!«
Der Erzähler senkte den Kopf und hielt das Kinn fest auf die Brust gedrückt, als müsse er die Geschichte aus den Tiefen seines Gedächtnisses hervorholen. Dann blickte er in die Runde und begann zu erzählen, wie es nur ein wahrer Künstler konnte. Seine Augen verengten sich, wenn es notwendig war, oder rollten beunruhigend wie große, schwarze Pflaumen; mal kauerte er sich zusammen, dann wieder ruderte er mit Armen und Beinen in der Luft; einmal war er Mensch, dann Tier, dann Baum, dann Schiff… Die Zuhörer hingen an seinen Lippen, unfähig irgendetwas anderes zu tun.
Die Geschichte handelte von einem jungen Mann, dem jüngsten von zehn Brüdern. Eines Tages sagte sein Vater zu ihm, dass nun auch für ihn die Zeit gekommen sei, seinen Weg zu nehmen, wie es seine Brüder zuvor getan hatten. Und da er der Jüngste war, blieb für ihn kein anderes Erbe mehr als das Schreinerhandwerk, das er von seinem Vater gelernt hatte, und ein Wanderstab. So ging er denn auf die Straße hinaus und beschloss in die Ferne zu ziehen, um sein Glück zu versuchen. Der Schreinersohn wanderte lange Zeit, aber immer auf derselben Straße. Er verdingte sich als Geselle bei verschiedenen Meistern und lernte viel dazu. Doch dann begann er unzufrieden zu sein mit seinem Los.
Er beschloss den Hobel beiseite zu legen und etwas anderes zu tun. Als Erstes wollte er die Straße verlassen, die ihn bisher immer begleitet hatte. Aber das war gar nicht so einfach. Mehrmals bog er zur Seite ab, aber er kam immer wieder auf den Pfad zurück; er floh in den Wald und erwachte am nächsten Morgen wieder am Wegesrand; er heuerte auf einem Schiff an, aber als er nach Monaten an Land ging, stand sein Fuß wieder auf derselben Straße.
Schließlich gab er auf. Er ließ sich nieder in einer Stadt, die am Rande einer großen Wüste lag. Oft wanderte er auf der Straße in die Wüste hinaus, um nachzudenken. Doch eines Tages, als er glaubte
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