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Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters

Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters

Titel: Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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ist Brauch hier bei uns, dass einer der Zuhörer die Moral der ersten Geschichte vorträgt.« Gimbar redete hastig auf Yonathan ein. »Da so gut wie jeder die Einführungsgeschichte und ihre Tugend kennt, ist das kein Problem. Aber der Erzähler gibt dadurch seinem Publikum die Ehre.«
    Der Einäugige wurde auf den fieberhaften Wortwechsel aufmerksam und reckte misstrauisch den Hals.
    »Und was hilft uns das jetzt…?«
    »Aber Yonathan!«, unterbrach ihn Yomi. »Könntest du nicht etwas machen mit deinem Stab, damit die Wahl auf ihn fällt. Wenn der Erzähler ihn wählt, muss er in die Mitte treten und die Moral verkünden. Weigert er sich, wird er davongejagt. In jedem Fall könnten wir verschwinden, ehe irgendjemand etwas mitbekommt.«
    Wenn der Geschichtenerzähler ihn wählt… Gedanken wirbelten durch Yonathans Kopf. Der Lärm auf dem Platz war nur noch ein fernes, dumpfes Rauschen. Tief aus seiner Erinnerung hallten Worte herauf, Worte von Navran, seinem Pflegevater. »Die Projektion. Diese Kraft ermöglicht es dem Träger Haschevets eigene Gedanken, Vorstellungen und Gefühle auf andere Personen zu übertragen – und zwar so, dass diese glauben, es wären ihre eigenen Empfindungen.« Sicher, das hatte Navran gesagt, als er ihm das Koach, die Macht, die von dem Stab Haschevet ausging, erklärte. Aber konnte er, Yonathan, das zustande bringen? Das Koach war und blieb Yehwohs Macht, eine Macht, für die der Stab und sein Träger nur Mittler waren, nicht aber die Quelle.
    Yomis und Gimbars Blicke waren gespannt auf ihren jungen Gefährten gerichtet. Das Spektakel, das den Platz erfüllte, hob sich wieder aus dem Rauschen in Yonathans Kopf. Er war wieder in der Gegenwart.
    »Wer kann uns die Tugend verkünden?«, fragte der alte Geschichtenerzähler, übertrieben gedehnt, in die Runde.
    Yonathan drehte sich um und stellte sich auf die Füße. Das dunkle Auge des kleinen Mannes, jenseits des sich drehenden und wendenden Geschichtenerzählers, verengte sich zu einem schmalen Schlitz von kalter, abschätzender Berechnung.
    In diesem Moment gewahrte der alte Erzähler im äußersten Winkel seines Gesichtsfeldes eine Bewegung. Er sah einen hoch gewachsenen Jungen, der sich auf die Füße stellte. Wollte er ihm heute Abend die Ehre geben? Sollte er ihn die Tugend verkünden lassen? Dann sah er jedoch, wie der Knabe eine abwehrende Kopfbewegung machte, als wolle er diese Aufgabe doch nicht auf sich nehmen.
    Yonathan griff, ohne den Blick von dem Einäugigen zu lassen, über die Schulter, wo sich der Stab befand. Er entfernte den Deckel von dem Köcher und zog Haschevet hervor, wie ein Krieger, der sein Langschwert zückt. Der goldene Knauf des Stabes vervielfältigte den Schein des Lagerfeuers, als wäre es das Licht der Sonne selbst.
    Das Auge Asons weitete sich in furchtvollem Erkennen.
    Und die Augen des Geschichtenerzählers weiteten sich in sehnsüchtigem Erkennen. Tränen funkelten darin und ein mildes Lächeln spielte um seine Lippen, als würde ihm nun endlich jener Anblick zuteil, für den er ein ganzes Leben lang die staubigen Straßen Neschans durchwandert hatte. Doch dann trat eine seltsame Ferne in seinen Blick und er schien Yonathan nicht mehr wahrzunehmen. Sein Lächeln kehrte zurück zu jener lang geübten Freundlichkeit, mit der er nun denjenigen auswählen würde, der seine Geschichte auslegen sollte. Er drehte sich noch einmal langsam um sich selbst, musterte die Menge der erwartungsvollen Gesichter und verharrte schließlich auf dem zerknitterten Antlitz des einäugigen, kleinen Mannes.
    Geschafft!, dachte Yonathan. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Fast hätte der Geschichtenerzähler ihn selbst auserwählt. Und schlimmer noch: Der Grauhaarige hatte Haschevet erkannt, den Stab, den Gläubige als göttliches Amtszeichen der Richter von Neschan und weniger Gläubige als sagenumwobenen, machtvollen Gegenstand aus alten Legenden kannten.
    »Da haben wir ja einen aufmerksamen Zuhörer«, rief der Geschichtenerzähler für alle gut hörbar. »Wessen Augen den Dienst versagen, dessen Ohren müssen Vierfaches leisten.« Eine Anspielung auf Asons Augenklappe. Alle lachten – außer dem Betroffenen selbst. »Wie ich sehe, haben wir einen ernsten Mann vor uns«, fuhr der Alte unbeirrt fort. »Nun gut, die Heiterkeit ist ein Schiff auf tosenden Wellen, der Ernst ein Felsen im Meer der Narren. So trete denn in unsere Mitte und verkünde uns den Sinn, auf dass sie uns eine Lehre werde, die Geschichte von

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