Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
dreinschauenden Wachposten durch einen Wink, die Tür wieder zu verschließen. Dann sagte er zu Yonathan: »Komm, ich zeige dir meine Gemächer.«
Der Aufstieg zu Felins kleiner Zimmerflucht auf dem Rücken eines gedrungenen, kräftigen Pferdes zählte zu den zahlreichen Merkwürdigkeiten, die Yonathan an diesem Tage begegneten. Die Rampe schlängelte sich wie ein gewundener Bergpfad zu den hoch gelegenen Gemächern der kaiserlichen Familie empor. Oben angelangt, durchschritten sie lange Gänge und Felin gab knappe Erklärungen zu den rechts und links vorbeiziehenden Türen. Der Kaiser und die Kaiserin hatten hier ihre geräumigen Zimmer; diejenigen des Kronprinzen Bomas standen die meiste Zeit über leer. Am Ende eines langen, nur spärlich beleuchteten Gangs stieß Felin eine Eichenholztür auf. Dahinter lag ein etwa zwanzig mal zwanzig Fuß großes Zimmer mit einem Schreibtisch und einem Stuhl, ein paar Sesseln, drei großen Kleidertruhen und einem Regal mit dreißig oder vierzig Büchern. Auf dem Fußboden lagen dichte Teppiche mit fremdartigen Motiven in leuchtenden Farben. An den weiß getünchten Wänden hingen Gobelins. Nur flüchtig erhaschte Yonathan einen Blick aus dem verglasten Fenster, das eine atemberaubende Aussicht auf den Norden und Osten Cedanors und das angrenzende fruchtbare Land Baschan gewährte. Draußen wurden die Wolken immer dunkler.
»Das ist mein Reich«, verkündete Felin mit weit ausgestreckten Armen. Seine Feststellung war eine Mischung aus Ironie und Besitzerstolz.
Yonathan wandte sich dem Prinzen zu und sagte: »Es ist gemütlich hier. Nur, ich hatte es mir irgendwie prunkvoller vorgestellt.«
»Dann solltest du die Gemächer meines Vaters sehen!«
»Ich bin mir sicher, dass mir Eure besser gefallen.« Yonathans Blick blieb an dem Regal hängen. »Ihr habt viele Bücher. Sie müssen sehr kostbar sein.«
Felin lächelte. »Sahavel gibt sich große Mühe aus mir einen gebildeten Mann zu machen. Ich würde ihn dir gerne vorstellen, aber mein Vater hat ihn heute früh ganz plötzlich fortgeschickt.«
»Sahavel, von den Charosim? Es muss ein Vergnügen und eine große Ehre sein, einen der Vierzig als Lehrmeister zu haben.«
Felins Lächeln wurde unergründlich; sein trauriger Blick wirkte durchdringend, unbestechlich. »Wie mir scheint, sprichst du aus Erfahrung.«
Yonathan erschrak. Wusste denn jeder hier, dass sein Pflegevater auch zu den Charosim gehörte?
»Ich verstehe nicht, was Ihr meint, Felin.«
»Du brauchst dich nicht zu verstellen, Yonathan. Das ist der Grund, warum ich dich bat mich in meine Räume zu begleiten: Ich glaube, ich weiß mehr von dir, als du denkst. Und, was noch wichtiger ist, ich weiß etwas, das du unbedingt erfahren solltest.«
Diese plötzliche Wende stürzte Yonathan in Verwirrung. Er versuchte das Thema zu wechseln.
»Vergesst, was ich im Thronsaal über meine Erinnerung gesagt habe, ebenso wie mein Unwohlsein. Ich kann mir das eine wie das andere nicht erklären, aber jetzt geht es mir schon viel besser.«
»Mag sein, Yonathan. Du hast sicher schon viel über den großen Thronsaal gehört – vielleicht so viel, dass es dir wie eine persönliche Erinnerung vorkam.« Felin schüttelte den Kopf. »Aber das ist es nicht, was ich meinte. Ich habe gestern ein Gespräch belauscht.«
Yonathan starrte den Prinzen an. »Ihr habt… was?«
Felins Mund verzog sich zu einem schwachen Lächeln. »Ich weiß, das gehört sich nicht, und das Lauschen zählt auch nicht zu meinen bevorzugten Zerstreuungen. Aber ich wollte meinen Vater nur davon unterrichten, dass ich gedachte, für einige Tage auf die Jagd zu gehen, aber bis zum Beginn der Feierlichkeiten wieder zurück sein würde. Er hätte sonst denken können, ich wolle mich vor seinem großen Fest drücken.«
»Euch scheint an den Feiern nicht besonders viel zu liegen.«
Felin verzog das Gesicht. »Ich denke da wie Baltan: zu viel Prunk! Mein Vater lässt sich als Wohltäter des Volkes feiern, obwohl so vieles im Argen liegt. Ich habe sogar den Eindruck, dass es immer schlimmer wird, seit er den Priestern Temánahs erlaubt hat durch das Kaiserreich zu ziehen und ihre Lehren zu verbreiten. Yehwoh scheint dem Land seinen Segen entzogen zu haben.«
Yonathan überraschten die Worte des Prinzen, die sich so offen gegen die Herrschaftsweise des Kaisers richteten. Er selbst dachte ebenso und hätte das Thema gern weiter vertieft, doch Felin tat ihm nicht den Gefallen.
»Wie auch immer«, fuhr der Prinz
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