Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
auf diesen Ton hin, der vor vier Tagen ganz Cedanor erfüllte. Jedermann in dieser Stadt hatte die zarte und alles durchdringende Kundgebung einer Macht wahrgenommen, die nicht von dieser Welt stammte. Seit diesem Tage war der Geheimdienst meines Vaters in Alarmbereitschaft. Und was meinst du, Yonathan, hat er am Abend von General Targith, seinem Geheimdienstchef, erfahren?«
Yonathan konnte es sich denken.
»Eine Gruppe von drei Personen war nur wenige Stunden vor diesem Ereignis am Stadttor gesichtet worden: ein großer, hagerer Blondschopf – der, wie man sagte, erstaunlicheÄhnlichkeit mit Kapitän Kaldeks vermisstem Sohn hätte –, ein kleinerer, dunkelhaariger Mann mit Hakennase und ein Knabe mit einem langen, runden Behälter auf dem Rücken.« Felin ließ diese Beschreibung einige Augenblicke lang auf Yonathan wirken. Dann fügte er hinzu: »Findest du nicht, dass diese Beschreibung sehr gut auf dich und deine Freunde passt?«
Yonathans Hals war trocken wie Wüstensand. Er hatte geglaubt, dass er seinen Auftrag unbeachtet hinter sich bringen könnte. Einen Stab zum Garten der Weisheit zu transportieren war schließlich, von der weiten Wegstrecke einmal abgesehen, keine so schwierige Aufgabe. Tatsächlich erwies sich seine ganze bisherige Reise dann aber als ein einziger Staffellauf voller Probleme. Und nun saß er hier vor dem Prinzen, dem Sohn eines äußerst ehrgeizigen Kaisers, und fühlte sich wie ein Buch, dessen letzte Seite gerade laut vorgelesen worden war. Was nützte es ihm, Sethur entkommen zu sein, nur um jetzt in dem vielleicht sanfteren, aber bestimmt nicht nachgiebigeren Griff Zirgis’ zu stecken? Der Kaiser hatte offensichtlich seine eigenen Pläne mit dem Stab und es war nicht zu erkennen, ob diese einem besseren Zweck dienten als diejenigen des dunklen Herrschers aus Temánah.
Vielleicht steckten beide Machthaber sogar unter einer Decke! Nein, so weit ging Zirgis’ Machthunger wohl doch nicht. Aber möglicherweise hatten die schwarz gewandeten temánahischen Priester ihren Einfluss im Cedanischen Kaiserreich schon weiter ausgedehnt, als es selbst der Monarch mit allen seinen Geheimdienstleuten ahnte. Vielleicht hatte Zirgis hier im Palast einen Ratgeber aus dem dunklen Reich.
Als wäre das alles nicht genug, wusste Yonathan nicht einmal, ob er Felin vertrauen konnte. Er wünschte sich, er könnte die Gedanken und Absichten des Prinzen erkennen. Aber es gelang ihm nicht. Felin wirkte in allem aufrichtig, ohne Frage. Aber er war der Sohn des Kaisers! Er stand am Rande der Macht. Wer wollte mit Sicherheit sagen, dass Felin in der Möglichkeit Yonathans Vertrauen zu gewinnen, nicht auch einen Weg sah, dasjenige seines Vaters zu erlangen, um neben seinem Bruder endlich als ein gleich starker, gleich kluger – gleich geliebter! – Sohn anerkannt zu werden?
Yonathan wollte antworten, aber seine Stimme versagte. Er räusperte sich und versuchte es ein zweites Mal. »Eure Erzählungen klingen wie die Wahrheit, Euer Hoheit. Aber angenommen, ich bin derjenige, für den Ihr mich haltet – woher kann ich wissen, dass es auch wirklich die Wahrheit ist? Wieso sollte ich Euch vertrauen? Ihr seid der Sohn des Kaisers!«
Felin nickte ernst und traurig. »Du hast Recht, Yonathan. Wie könntest du mir vertrauen? Wenn du der bist, für den ich dich halte, dann durfte deine Antwort nur so und nicht anders lauten, und ich bin nicht würdig weiter in dich zu dringen.« Für einen Augenblick schwieg Felin und blickte zu Boden. Dann fesselte er wieder Yonathans umherirrenden Blick mit dem seinen und erklärte: »Aber möglicherweise kann ich mir dein Vertrauen verdienen.« Er erhob sich von seinem Stuhl und bat: »Komm bitte mit, Yonathan. Ich möchte dir etwas zeigen. Etwas, das seit zweihundert Jahren in Vergessenheit geraten ist, obwohl jeder davon weiß. Etwas, das nur die Familie des Kaisers wirklich kennt.«
Yonathan war froh nicht antworten zu müssen und endlich, zumindest für eine gewisse Zeit, dem bannenden Blick des Prinzen entkommen zu sein.
Der Weg führte diesmal ans westliche Ende des langen Flurs in ein Zimmer, das wie eine Abstellkammer anmutete, und von dort durch eine unscheinbare schmale Tür hinab über eine enge, schier endlose Wendeltreppe, die sich durch die Außenmauer des Großen Kubus schraubte. Kein Fenster, nicht einmal der geringste Spalt, erlaubte dem Tageslicht hier einzudringen. Nur eine Fackel, die Felin in der Hand trug, erhellte einen winzigen Bereich dieses nicht
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