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Nesser, Hakan

Nesser, Hakan

Titel: Nesser, Hakan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Perspektive des Gaertners
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dass es
nicht mein Verdienst ist, und darüber, dass es nicht mir zugute kommt. Gleichzeitig
erscheint sie mir fremd, in der gleichen Art, wie sie mir früher am Abend im
Zug als eine vollkommen unbekannte Frau erschienen ist; ich habe Probleme, mir
klar zu machen, dass es sich wirklich um Winnie Mason handelt, meine Ehefrau,
die da sitzt und zusammen mit der kleinen, reizbaren Martha Bowles lacht, und da der Unterschied zwischen Schein und
Wirklichkeit in dieser Stadt und in meinem Leben momentan so gering ist, habe
ich den Eindruck, ich sähe nur eine Szene aus einem Film; das sind Sally
Bowles und irgendeine Nebenrolle, die dort hinten auf
dem Sofa mit einer Aufnahme beschäftigt sind, ich begreife zwar nicht so
recht, welche Funktion Peter Brockenmeyer und ich in diesem Zusammenhang
haben, vielleicht sind wir die Produzenten oder Kameramänner oder
Drehbuchautoren, ich bekomme mit, dass er gerade mit einer längeren und
offenbar gelungenen Ausführung über Gott weiß was fertig ist. Er trinkt einen
großen Schluck Wein und wartet auf meinen Kommentar, ich entschuldige mich und
erkläre, dass ich auf die Toilette muss.
     
    Um
Viertel vor eins betreten wir den Bahnsteig. Winnies gute Laune ist verflogen,
jetzt ist sie nur noch müde und berauscht. Mein eigener Zustand ist ungefähr
genauso, außerdem reizt es mich, dass wir einander in gewisser Weise fremd
sind. Ich weiß, dass der Moment vollkommen falsch gewählt ist, aber in dem
Maße, in dem der Wein zu Kopf steigt, schwindet der Verstand, und dieser
verfluchte Zug lässt auf sich warten.
    »Warum
lügst du mich an, Winnie?«, frage ich.
    »Was?«,
erwidert Winnie. »Was sagst du da?«
    »Ich
frage dich, warum du mich anlügst. Ich weiß, dass du mich hinters Licht führst,
und ich würde gerne wissen, warum.«
    »Ich
verstehe nicht, wovon du redest«, erklärt Winnie.
    »Das
verstehst du ganz genau«, widerspreche ich.
    »Tue
ich nicht«, beharrt Winnie.
    »Ich
rede von diesem Mittagessen im Pastis«, sage ich. »Davon rede ich, und von dem
Nachmittag, als ich dich auf der Bedford gesehen habe. Du behauptest, ich hätte
mich jedes Mal geirrt, aber du weißt doch genauso gut wie ich, dass das nicht
stimmt. Du warst da, verdammt noch mal, Winnie, ich weiß, dass du da warst!«
    Sie
schüttelt den Kopf, ohne mich anzusehen. Starrt stattdessen auf eine fette
schwarze Ratte, die über die Gleise läuft.
    »Da
geht etwas vor sich, wovon ich nichts mitkriegen soll«, fahre ich fort, als mir
klar wird, dass sie gar nicht daran denkt, etwas zu sagen, »und ich will, dass
du mir sagst, worum es geht. Das verlange ich.
Du hast... du hast mir nicht einmal erklärt, warum du glaubst, dass Sarah am
Leben ist, du schließt mich von allem aus, und ich will mich nicht mehr damit
abfinden. Findest du es merkwürdig, dass ich wütend bin? Sind wir eigentlich
immer noch Mann und Frau, oder wie soll ich mich deiner Meinung nach verhalten?«
    Die
Worte platzen in einem ununterbrochenen Strom aus mir heraus, in einer
aggressiven Tonlage, wie ich sie seit dem Unglück nicht mehr benutzt habe, auch
vorher wohl kaum, da ich immer damit geprahlt habe, ein kontrollierter Mensch
zu sein, dessen Worte stärker sind als Fäuste, und Winnie bleibt starr und
schweigend sitzen, die Hände fest im Schoß gefaltet. Eine ganze Weile sitzt
sie so da und starrt auf die dunklen Schienen, immer noch ist nicht die Spur
eines Zuges zu sehen, auch keine Ratte mehr, aber es gibt ziemlich viele
Menschen auf dem Bahnsteig, es wird hier und da über den Fahrplan gemurrt, der
offensichtlich nie eingehalten wird, und dass man sich nie auf diesen
verdammten Zug verlassen kann, aber weiter hinten spielen drei dunkelhäutige
Männer Jazz - Tenorsaxophon, Klarinette und Gitarre -, die Stimmung ist also
durchaus gemischt. Während ich auf eine Antwort von meiner Ehefrau warte, lausche
ich unbewusst diesem gespaltenen Chor aus wütenden Stimmen und ruhig
dahinswingender Musik; ich spüre, wie der Alkoholrausch langsam verfliegt und
von einer anschwellenden Hoffnungslosigkeit ersetzt wird. Es vergeht ziemlich
viel Zeit, mehrere Minuten, schließlich dreht sie den Kopf und sieht mich an;
ich kann eine andere Art von Hoffnungslosigkeit in ihren Augen erkennen,
vielleicht ist es auch etwas ganz anderes, ich weiß nicht, was. Ich kann sie
nicht länger deuten. Ich kann nichts mehr deuten, ich bin nur noch müde, und
mir ist übel.
    »Eine
Woche«, sagt sie in einem Tonfall, der plötzlich fast flehentlich klingt.

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