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Nesser, Hakan

Nesser, Hakan

Titel: Nesser, Hakan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Perspektive des Gaertners
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»Gib
mir eine Woche, Erik. Ich kann dir jetzt noch nichts sagen.«
    Die
Worte bleiben mir in der Kehle stecken, vielleicht versuchen sie sich in eine
Reihe zu stellen und irgendeinen Standpunkt zu formulieren - und auf
irgendeine Art und Weise ist mir klar, dass sie die Wahrheit sagt. Es gelingt
mir nicht, etwas zu erwidern. Ich nicke und lege den Arm um ihre Schultern.
Unsere jeweilige Hoffnungslosigkeit lehnt sich aneinander, und der Zug lässt
auf sich warten.
     
    15
     
    Am
Sonntagmorgen macht sich Winnie bereits um halb neun Uhr auf, um schwimmen zu
gehen. Sie verspricht, vor drei Uhr wieder zurück zu sein, erzählt mir aber
nicht, was sie abgesehen vom Training noch machen will.
    Oder
will sie die fünf, sechs Stunden tatsächlich im Schwimmbecken verbringen? Wohl
kaum, aber ich frage nicht nach. Das Schweigen ist zu unserer normalen
Umgangsform geworden, und ich habe ihren Wunsch nach einem einwöchigen Moratorium
noch gut in Erinnerung. Moratorium? Vielleicht
ist das nicht der richtige Ausdruck in diesem Zusammenhang, aber mir hat das
Wort immer gut gefallen, es hat den unzweifelhaften Klang von Tod und
Determinismus an sich, obwohl seine Bedeutung eigentlich nur »Frist« ist. Der
Aufschub von etwas Unangenehmem und Unausweichlichem, ich denke, dass es sich
mit dem Leben selbst und auch mit dem Tod haargenau so verhält. Jeder Tag,
jedes Jahr, jede Stunde sind natürlich ein Aufschub; manchmal auch mehr, aber
das auf jeden Fall.
    Ich
dusche, frühstücke, und da die Leroy-Bibliothek sonntags geschlossen hat,
nehme ich die Metro hoch zum Fort Tryon Park. Das Wetter ist ausgezeichnet, ich
kann gut ein paar Stunden im Park sitzen und schreiben. Ausnahmsweise erscheint
mir das gar nicht schlecht, ich muss einiges
verändern, vielleicht nicht gerade Antworten finden, aber zumindest eine
gewisse Anzahl relevanter Fragen stellen. Und oben im Tryon Park wird man in
Ruhe gelassen, Winnie und ich haben das Klostermuseum in unserer ersten Woche
in der Stadt besucht, und ich habe festgestellt, dass nicht besonders viele
Menschen so hoch in den Norden Manhattans fahren.
     
    Ich
finde eine Bank, die in einen üppigen Busch geschoben wurde, aber dennoch einen
schönen Blick über den Fluss und etwas weiter die George Washington Bridge
bietet. Ich denke, das hier ist ein einmaliger Platz, dieser historische Park;
als Rockefeller dieses Land kaufte und es den Einwohnern von New York schenkte,
da kaufte er gleichzeitig ein großes Stück Land auf der anderen Seite des
Hudson - so dass man, wenn man hier sitzt, nicht jede Menge unschöner Bausünden
vor Augen haben muss. Nur
den gewaltigen Strom - die Wasser, die in zwei Richtungen fließen und zweifellos
als Quelle für die Souveränität der Stadt gelten können -, ein hoher
Felsabbruch und Wildnis.
    Doch
ich ignoriere all das, senke meinen Blick auf mein Notizheft und beschließe,
wieder beim Nullpunkt anzufangen.
    Mittwoch,
der 5.5.2006, schreibe ich ganz oben auf eine rechte
Seite. Was ist passiert?
    Auf
einer klinischen Oberfläche ist es ja ganz einfach zu beschreiben. Unerhört
einfach: ein vierjähriges Mädchen namens Sarah Mason-Steinbeck sitzt auf einer
Rasenfläche vor ihrem Haus in der Wallnerstraat in der Stadt Saaren und spielt.
Es ist Nachmittag, die Uhr zeigt kurz nach halb vier. Frühling liegt in der
Luft, schönes Wetter. Draußen auf der Straße hält ein mittelgroßer, ziemlich
neuer, grün lackierter Wagen. Ein Mann Anfang mittleren Alters steigt aus,
lockt das Mädchen zu sich und unterhält sich mit ihr. Nach einer Weile willigt
sie ein, in das Auto zu steigen, und folgt ihm. Der Vater des Mädchens beobachtet
die ganze Szene von einem Fenster in ungefähr fünfundzwanzig Meter Entfernung
aus. Fast augenblicklich wird ihm klar, dass das Mädchen mit größter
Wahrscheinlichkeit entführt worden ist, und er ruft die Polizei. Siebzehn
Monate später ist Sarah Mason-Steinbeck immer noch verschwunden, und weder die
Polizei noch sonst jemand weiß etwas über ihr Schicksal.
    Das
ist der klinische Nullpunkt. Hinzugefügt werden kann, dass es der Polizei im
Laufe der Zeit nie auch nur annähernd gelungen ist, etwas vorzuweisen, was man
wohlwollend betrachtet als Spur oder Anhaltspunkt bezeichnen könnte. Außerdem
darf hinzugefügt werden, dass die Ermittlungshypothese AI - wonach der Täter
sich an dem Mädchen vergriffen hat, es anschließend tötete, um es dann an einem
unbekannten Ort zu vergraben - in keiner Weise der Tatsache widerspricht,

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