Nesser, Hakan
Memoiren beantwortet werden sollen?«
»Ja,
das eine oder andere«, wiederholt Mr. Edwards und sieht nachdenklich aus. »Das
eine oder andere.«
Wir
gönnen uns auch noch eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen, und als es auf dem
Tisch steht, kommt er mit seiner überraschenden Frage.
Oder
Beobachtung, besser gesagt.
»Es
bedrückt Sie doch etwas, nicht wahr, Mr. Steinbeck?«
»Wieso
glauben Sie das?«
»Ich
habe es gar nicht übersehen können. Besonders in den letzten Tagen.
Entschuldigen Sie bitte, ich möchte auf keinen Fall aufdringlich erscheinen,
aber Sie...«
»Nein,
nein«, unterbreche ich ihn. »Sie sind absolut nicht aufdringlich. Und es stimmt
tatsächlich, dass... dass mein Leben momentan etwas schwierig ist.«
»Ach,
ja?«
Er
lehnt sich zurück, die Kaffeetasse auf halbem Weg zum Mund.
Betrachtet
mich wieder mit dieser Falte über dem Auge. Plötzlich muss ich an Studienrat Verbausen denken, meinen alten
muttersprachlichen Lehrer aus der Schule in Linden - wie der immer
dreinschaute, wenn man seinen Erwartungen nicht Genüge tat. Wenn er eine
Erklärung für eine besonders missglückte Formulierung im letzten Aufsatz
erwartete.
Ich
blinzle schnell Studienrat Verbausen weg und versuche, eine Entscheidung zu
treffen.
»Es
sieht so aus, als versuchten Sie, eine Entscheidung zu treffen«, sagt Mr.
Edwards und nippt an seinem Espresso. »Korrigieren Sie mich, wenn ich mich
irre.«
Das
entscheidet die Sache.
Im
Laufe der nächsten Stunde berichte ich Mr. Edwards von meiner Lage. Wir sind
umgezogen in ein Cafe auf der Christopher Street, und als ich fertig bin,
fühle ich mich, als wäre ich endlich einen entzündeten Zahn los. Eine
Verstopfung, eine unbezahlte Rechnung, was auch immer.
Wie
Mr. Edwards sich fühlt, weiß ich nicht. Er hat meiner ganzen Geschichte ohne
besonders große Einwürfe oder Fragen zugehört. Ich habe mir aber auch Mühe
gegeben, so genau und so chronologisch wie möglich zu berichten, aber ich sehe
natürlich ein, dass es Ungereimtheiten gibt. Ich selbst habe Schwierigkeiten,
meine Lebenssituation zu begreifen und zu beschreiben, und für einen
Außenstehenden muss das
Ganze ja noch ungereimter erscheinen.
Vielleicht
ist ein anderer Blickwinkel aber ganz hilfreich. Es heißt ja, dass es so sein
kann, und vielleicht ist diese unausgesprochene Hoffnung der Grund, dass ich
mich dazu entschlossen habe, Mr. Edwards der Geschichte meines Leidens auszusetzen.
Auf jeden Fall ist es die Entwicklung der letzten Tage, die ihn am meisten
interessiert - natürlich drückt er seine tiefe Sympathie und sein Mitgefühl
aus, was Sarahs Verschwinden und Winnies Selbstmordversuch betrifft -, aber es
ist in erster Linie die momentane Rolle meiner Frau, über die er sich wundert;
ihre Behauptung, sie wisse, dass unsere Tochter am Leben ist, ihr Bild, ihr Leugnen,
nachdem ich sie zweimal in West Village gesehen habe.
»Und
Sie sind sich sicher, dass sie es war?«, will er wissen. »Hundertprozentig
sicher?«
»Hundertprozentig«,
bestätige ich. »Nun ja, lassen Sie uns sagen, neunzig beim ersten Mal und
hundert beim zweiten.«
»Hundert,
was das Pastis betrifft?«
Ich
nicke. Mr. Edwards saugt die Wangen ein und blinzelt, ich nehme an, das ist ein
Ausdruck für Zweifel und leichte Verwunderung. Vielleicht wägt er einen Moment
lang die Möglichkeit ab, er könnte einem Mythomanen gegenübersitzen.
Schriftsteller und Mythomanen wohnen Seit an Seit in Dantes Inferno, das ist
nichts Neues.
»Was
glauben Sie?«, fragt er nach einer halben Minute Schweigen. »Welche Erklärung
haben Sie selbst?«
Das
Problem ist, dass ich keine Erklärung habe, und dabei bleibe ich auch. Er
fragt mich, ob er das richtig verstanden habe, die Beziehung zwischen meiner
Frau und mir habe sich seit dem Verschwinden unserer Tochter radikal verändert.
Auch
das gebe ich zu. »Sie hat sich verändert«, sage ich, während mein Blick einer
dunkelhäutigen, langbeinigen Frau folgt, die auf dem gegenüberliegenden
Bürgersteig vorbeigeht und einen großen roten Reisekoffer hinter sich
herzieht. »Unglaublich verändert, manchmal habe ich das Gefühl, meine Frau ist
vollkommen unbegreiflich für mich. Aber ich liebe sie, vermutlich mehr, als
ich es je getan habe.«
Die
Frau bleibt stehen, spricht in ein Handy. Dann setzt sie sich auf eine Bank und
stützt den Kopf schwer in die Hände. Vielleicht weint sie. Nach einer Weile steht
sie auf und geht weiter.
»Es
ist nicht das Vertraute, das Objekt unserer Arbeit
Weitere Kostenlose Bücher