Nesser, Hakan
dass
brauchbare Spuren oder Anzeichen fehlen. Ganz im Gegenteil: Er muss nur sorgfältig genug vorgegangen sein, ziemlich vorsichtig,
und dazu noch das gehörige Maß Glück auf seiner Seite gehabt haben.
Möglicherweise
hat er auch eine Art Motiv gehabt. Eine Art krankhaften Trieb jedenfalls. In
den letzten zehn Jahren ist in der Gegend um Saaren kein anderes kleines
Mädchen dem gleichen Schicksal zum Opfer gefallen wie Sarah. Und in den folgenden
siebzehn Monaten auch nicht. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass unsere
Tochter einem Serienmörder zum Opfer gefallen ist.
Ich
mache eine Pause und hebe meinen Blick. Lehne mich auf der Bank zurück und
schaue mich um. Es ist schwer, sich klar zu machen, dass man sich immer noch in
Manhattan befindet. Der Fort Tryon Park ist die Inkarnation des Begriffspaares
Ruhe und Frieden, und dass es sich hierbei um etwas Konstruiertes handelt,
verstärkt den Eindruck fast noch. Mit dem Taxi sind es nicht mehr als zehn
Minuten zur Metropolitan Opera oder der Fifth Avenue.
Ich lese meine Aufzeichnungen vom Nullpunkt und kehre zur Gegenwart zurück.
Hypothese B3? Sarah ist am Leben?
Was
bringt Winnie dazu, dies mit solch einer Beharrlichkeit zu behaupten? Wie kommt
sie dazu?
Ist
es einzig und allein eine Frage ihrer inneren Überzeugung? Etwas, das sie
geträumt oder phantasiert hat? Ist dies wiederum ein Zeichen dafür, dass sie
wieder verrückt wird?
Oder
gibt es tatsächliche Beweise? Eine Art Berechtigung für das, was sie behauptet?
Und wenn ja, was dann? Und warum ist sie nie darauf zurückgekommen?
Die
Fragen sind berechtigt und gleichzeitig unbequem. Besonders während ihrer Zeit
in Rozenhejm ist Winnie mehrere Male auf derartige Dinge zu sprechen gekommen.
Via Zeichen, Erscheinungen oder Träumen hatte sie verschiedene Arten von
Hinweisen dahingehend empfangen, wie wir unsere Tochter wiederfinden könnten.
Wir sollten diese oder jene Telefonnummer anrufen, zu dieser oder jener
Adresse fahren oder nach einer gewissen Person mit einem bestimmten Namen
suchen. Oder nach bestimmten Initialen. Auf Doktor Vargas' Rat hin versuchte ich nicht, Winnie zur Vernunft zu bringen
oder mich ihren Vorschlägen allzu energisch zu widersetzen. Es kam vor, dass
ich in Cafes saß und darauf wartete, dass eine Frau mit einem roten
Regenmantel auftauchte, dass ich wildfremde Menschen anrief und dass ich in
Tageszeitungs-Anzeigen nach geheimen Mitteilungen suchte - einmal verbrachte
ich vier Stunden auf einer Bank vor einem Spielplatz in der Gemeinde Gimsen und
versuchte Sarah zwischen der Horde von Kindergartenkindern zu entdecken -,
aber jedes Mal musste ich meiner Ehefrau mitteilen, dass ich keinen Schimmer
von unserer Tochter gesehen hatte. Doktor Vargas meinte trotzdem, es sei die richtige Methode - Winnies
Hinweise ernst zu nehmen. Einem Menschen die Hoffnung zu nehmen, fördert nicht
den Heilungsprozess. Natürlich müsse man Grenzen setzen, wenn es allzu
phantastisch werde, erklärte er mir, aber es gab absolut keinen Grund für
allzu enges, einschränkendes Verhalten. Zu gegebener Zeit musste man
möglicherweise die schwärzeste aller Tatsachen akzeptieren, aber warum das
Dunkel schon vorzeitig heraufbeschwören?
Ja,
warum?, denke ich, während ich einen schwarzen, verrosteten Flusskahn
betrachte, der langsam auf dem vielbefahrenen Wasser unter der Brücke hindurchgleitet.
In hundert Jahren sind wir alle tot.
Winnie
wurde besonders in diesen sechs Monaten ihrer Krankheitsphase von derartigen
Phantasien heimgesucht. Damals wagte ich es als Phantasien zu bezeichnen, und
ich begreife nicht, was mich jetzt zögern lässt, die gleiche Bezeichnung zu
benutzen, ein Jahr später auf einer Bank im Fort Tryon Park im Staat New York.
Aber so ist es nun einmal, etwas sagt mir, dass die Voraussetzungen jetzt
andere sind. Winnie ist nicht mehr psychisch krank, sie nimmt ihre Medikamente,
wir haben das Alte hinter uns gelassen und sind dabei, uns ein neues Leben in
einem anderen Teil der Welt aufzubauen.
Ja,
ich will mir nur zu gern einreden, dass es sich so verhält; ich muss es mir in regelmäßigen Abständen immer wieder einreden,
damit mein eigenes Leben nicht aus der Bahn gerät, und wenn... wenn nun meine
Ehefrau behauptet, unsere Tochter sei tatsächlich am Leben, dann will ich das
nicht als Zeichen sehen, dass sie auf dem Weg zurück in die Dunkelheit ihrer
Krankheit ist. Obwohl es natürlich so ist. Ich brauche eine gesunde Winnie -
zumindest eine einigermaßen gesunde Winnie -,
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