Nesser, Hakan
noch
seinen Gang. Ich sitze im Cafe im dritten Stock und blättere im New Yorker, als
er plötzlich vor mir steht. Ich habe seit drei Nächten nicht geschlafen.
Nicht
mehr, seit Winnie mich verlassen hat; als ich zu Peter Brockenmeyer hochschaue,
tanzen gelbe Flecken am Rand meines Blickfelds. Ein paar Sekunden lang fällt
mir nicht ein, wer er ist, doch dann kommt die Erinnerung wieder.
»Erik«,
sagt er. »Das ist aber eine schöne Überraschung, dich hier zu sehen.«
Mir
fällt ein, dass ich mich noch gar nicht für die Einladung bedankt habe, und ich
beeile mich, das nachzuholen. Er nickt zu dem leeren Stuhl mir gegenüber; ich
sehe, dass er einen Kaffeebecher in der Hand hat, und gebe ihm mit einem
Zeichen zu verstehen, dass er sich setzen soll.
»Scheißwetter«,
sagt er und schaut auf den Union Square hinaus. »New York ist bekannt für
seinen schönen Herbst, ich weiß gar nicht, was das zu bedeuten hat.«
Ich
murmele irgendetwas als Antwort. Er hüstelt etwas peinlich berührt.
»Ich
werde Martha in zehn Minuten treffen, wollte mich nur vorher mit einem kleinen
Kaffee aufwärmen. Wie geht es Winnie?«
»Gut«,
antworte ich. »Obwohl, ich bin mir nicht sicher. Sie ist abgehauen.«
Ich
weiß nicht, warum ich das sage, und Peter Brockenmeyer weiß definitiv nicht,
wie er damit umgehen soll.
»Abgehauen«,
wiederholt er und schaut sich nervös um. Als fürchte er, ich hätte zu laut
gesprochen und ein peinliches Geheimnis verraten. »Ich meine...«
Er
weiß nicht weiter, trinkt stattdessen von seinem Kaffee und verbrennt sich
dabei die Lippen. »So eine Scheiße«, wiederholt er und wischt sich den Mund
mit einer Serviette ab.
»Ich
habe nur Spaß gemacht«, sage ich. »Sie ist zu Besuch bei Verwandten in Boston.
Kommt morgen zurück.«
»Habe
ich mir doch gedacht«, sagt mein Übersetzer mit einem angestrengten Lachen.
Ich merke, dass er meiner Erklärung nicht so recht glaubt.
»Ich muss dich leider verlassen«,
sage ich und schaue auf die Uhr. »Habe in ein paar Minuten eine Verabredung.«
Er
nickt, ich stehe auf und arbeite mich mit Mühe zwischen Tischen und Stühlen
hindurch.
Als
ich wieder zu Hause in der Carmine ankomme,
bin ich durchnässt. Ich ziehe mich um und setze mich vor den Computer. Öffne
mit einem Klick meine Mails und sehe nach, ob ich von Doktor Vargas eine Antwort erhalten habe.
Nein.
Es sind achtundvierzig Stunden vergangen, seit ich ihm gemailt habe, ich
kontrolliere noch einmal, ob meine Nachricht auch wirklich rausgegangen ist,
dann lege ich mich aufs Bett und bitte um eine Stunde Schlaf.
Die
mir nicht gegönnt ist. Ich bleibe dennoch liegen und ruhe mich aus, während ich
warte, dass es zwei Uhr wird, der Zeitpunkt, zu dem die Leroy-Bibliothek
montags öffnet. Fragen tanzen mir wie müde Hornissen im Kopf herum, die gleichen
Fragen, die seit Freitagmorgen tanzen. Ich mag mir nicht einmal mehr
irgendwelche Antworten vorstellen, aber mir ist klar, dass ich aus meiner
Einsamkeit heraus muss. Wenn
sonst nichts, wird mich diese Einsamkeit verrückt machen.
Aber
die Vorstellung, meine Situation mit so jemandem wie Peter Brockenmeyer zu diskutieren,
ist nicht besonders verlockend.
»Lassen
Sie uns für eine Weile in den Park gehen«, sagt Mr. Edwards. »Ich glaube, der
Regen hat sich zurückgezogen.«
Das
tun wir. Setzen uns jeder auf einer Bank bei der Boulebahn auf eine Zeitung.
Trinken einen Schluck aus unseren Kaffeebechern, die wir bei Out
of the Kitchen gekauft haben. Ich denke, das hier
könnte eine Szene aus einem alten englischen Spionagefilm sein. Zwei
abgehalfterte Agenten, die sich treffen, um miteinander Informationen
auszutauschen, ohne abgehört werden zu können. Dann denke ich: Was für ein
vollkommen sinnloser Vergleich, ein Zeichen dafür, dass ich kurz davor bin, die
Kontrolle zu verlieren. Mr. Edwards bringt einen anderen Aspekt ein.
»Edgar
Allan Poe ist zu seiner Zeit gern hier herumgelaufen.«
»Poe?«,
frage ich. »Hier?«
Er
nickt. »Damals war das hier ein Friedhof. Ein potters field, Sie wissen, was das ist? Es gibt ziemlich viele Parks hier
in der Stadt mit dieser Geschichte. Auf jeden Fall scheint es hier gewesen zu
sein, wo er The Raven geschrieben hat. Oder
zumindest die Inspiration dafür bekommen hat. Once
upon a midnight dreary ... Sie
wissen schon?«
Ich
bestätige, dass ich weiß, was ein potters field ist, und dass ich The Raven kenne. Wir schweigen eine Weile
und denken über die Bedeutung dieses Ortes nach, ich meine
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