Nesser, Hakan
aufgefallen«,
sagt Vendler. »Und kein fremder Mann in einem grünen Mantel.«
»Worauf
wollen Sie hinaus?«, frage ich.
»Es
gibt keine Zeugen«, wiederholt Tupolsky. »Wir haben nur Ihre Angaben, an die
wir uns halten können. Und wenn wir etwas herausfinden wollen, müssen wir
sorgfältig alle Tatsachen beachten.«
»Sorgfältig
alle Tatsachen beachten«, wiederholt Vendler.
»Beispielsweise
die Tatsache, dass Ihre Angaben möglicherweise nicht stimmen«, sagt Tupolsky.
»Was für ein Verhältnis hatten Sie eigentlich zu Ihrer Tochter, Herr Steinbeck?«
Zu
diesem Zeitpunkt des Gesprächs ist mir klar, dass es darum geht, genau so viel
Empörung zu zeigen, wie der Moment erfordert, aber jedes Mal misslingt mir das.
Zum Teil liegt es daran, dass ich zu lange nachdenke und damit die natürliche
Spontaneität verloren geht, zum Teil, und zwar in erster Linie, daran, dass
sich die Tür hinter Tupolsky und Vendler öffnet und eine Frau den Raum betritt.
Sie
stellt sich zwischen die beiden Kriminalinspektoren, legt jedem eine Hand auf
die Schulter, als wollte sie betonen, dass sie diejenige ist, die das
entscheidende Wort zu sagen hat. Mir wird klar, dass es eine Art Tribunal ist,
vor dem ich stehe, und gleichzeitig erkenne ich, um wen es sich bei der Frau
handelt.
Um
Agnes, meine erste Ehefrau. Sie hat die Haare gefärbt, größere Brüste bekommen
und ist um diverse Zentimeter gewachsen, wie mir scheint, aber es besteht kein
Zweifel daran, dass sie es ist. Sie trägt ein merkwürdiges, eng anliegendes
Goldlamekleid, das absolut nicht in einen Verhörraum passt - eher wohl zu einer
Art Galapremiere. Es steht ihr auch überhaupt nicht, und ich kann ums
Verrecken nicht begreifen, was sie in diesem Traum zu suchen hat.
Jedes
Mal bin ich wieder gleich verwundert und empört darüber. Doch ihre Empörung
ist größer, viel größer.
»Was
hast du mit unserer Tochter gemacht?«, zischt sie zwischen zusammengebissenen
Zahnreihen hindurch. »Was hast du mit unserem Kind gemacht?«
»Beruhige
dich«, sage ich. »Du gehörst gar nicht hierher. Wir haben kein Kind zusammen,
das weißt du nur zu gut, denn du bist unfruchtbar.«
Sie
ignoriert meine Bemerkung vollständig.
»Du
bist schuldig!«, schreit sie. »Schuldig, schuldig, schuldig!«
»Wessen
bin ich schuldig?«, versuche ich zu protestieren, doch in dem Moment, als ich
das frage, werfe ich schnell einen Blick auf meine Hände. Sie sind voller Blut,
und ich versuche sie schnell unter dem Tisch zu verstecken. Es ist zu spät, in
jeder Beziehung zu spät.
»Die
Hände auf den Tisch, die Hände auf den Tisch!«, rufen alle drei im Chor, und
jetzt verliert der Traum langsam alle logischen Proportionen. Ich stehe von
meinem Stuhl auf und laufe los, um zu entkommen, das Zimmer löst sich auf, ich
befinde mich in einem Wald, vor einer starken Steigung, ich weiß, dass ich dort
hinaufkommen muss, denn
meine Verfolger sind mir auf den Fersen, ich pralle gegen alle möglichen Bäume,
stolpere über Wurzeln und Steine und falle in dornige Büsche. Meine Hände sind
immer noch voller Wunden und bluten. Vögel fliegen krächzend auf, und obwohl
ich mich die ganze Zeit nach oben kämpfe, komme ich schließlich an einen
breiten Fluss. Das Wasser ist rau, es ist mir klar, dass es unmöglich ist, hinüberzuschwimmen,
aber da ich meine Plagegeister nur wenige Schritte hinter mir höre, werfe ich
mich trotzdem hinein. Ich muss auf
die andere Seite gelangen, werde jedoch stattdessen von einem kräftigen
Mahlstrom mitgerissen, in Wirbeln immer weiter nach unten gezogen, und während
dieser kreiselnden Wirbelbewegung wache ich irgendwann auf.
Immer
wache ich in diesem Wirbel auf, mit einer leichten Übelkeit und einem
Schwindelgefühl - aber gleichzeitig mit Erleichterung. Erleichtert darüber,
davongekommen zu sein.
Es
gibt Variationen von Traum zu Traum, natürlich, aber im Großen und Ganzen läuft
er immer auf die gleiche Art ab. Er fängt an im Verhörzimmer, setzt sich fort
im Wald und endet im Mahlstrom, und allein seit wir in New York angekommen
sind, habe ich diesen Traum sicher ein halbes Dutzend Mal geträumt.
Alles
in allem ziehe ich die Schlaflosigkeit vor.
21
Ich
stoße auf Peter Brockenmeyer bei Barnes & Noble am Union Square. Es ist
Montag, der 8. Oktober - noch zwanzig Tage bis zu Sarahs Geburtstag,
zweiundzwanzig bis zu Winnies und meinem Hochzeitstag -, und es ist Vormittag;
draußen im Regen geht der Obst- und Gemüseverkauf auf dem Markt immer
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