Nesser, Hakan
im Sessel auf, schlucke ein paar Mal und
versuche mich zu konzentrieren.
»Ihre
Frau geht davon aus, dass sie lebt. Das ist ein entscheidender Unterschied.«
»Natürlich«,
bestätige ich. »Natürlich ist das ein entscheidender Unterschied.«
»Und
warum gehen Sie davon aus, dass sie tot ist?«
Ich
antworte nicht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Geraldine Grimaux
betrachtet mich intensiv, als suchte sie tatsächlich nach einer Erklärung, die
in mir existiert, ohne dass ich mir dessen bewusst bin. Wir schweigen erneut,
eine Minute lang, vielleicht zwei, langsam habe ich das Gefühl, sie findet
nicht, wonach sie sucht.
»Mr.
Steinbeck«, sagt sie schließlich. »Das ist eine sonderbare Geschichte. Selbst
für eine Person mit meiner Erfahrung. Eine sehr sonderbare.«
24
»Ich muss zunächst etwas
entscheiden, bitte entschuldigen Sie.«
»Entscheiden?
Was müssen Sie entscheiden?«
»Wie
viel Ihnen zu erzählen ich das Recht habe.«
»Ich
verstehe nicht.«
Sie
sieht mich abschätzend an. »Es ist keine ganz einfache Entscheidung«, sagt sie.
»Sie dürfen nicht missbrauchen, was ich Ihnen erzähle.«
»Ich
denke gar nicht daran, irgendetwas zu missbrauchen«, erkläre ich und spüre eine
gewisse Empörung. »Warum sollte ich das? Ich suche nach meiner Frau und
meiner...«
»Nein«,
unterbricht sie mich. »Sie können sich nicht abschließend äußern, solange Sie
nicht wissen, was ich zu erzählen habe.«
»Tut
mir leid.«
Sie
schließt für einige Sekunden die Augen, öffnet sie dann wieder. Sie hat etwas
an sich, was ich nicht so recht akzeptieren kann, eine Art Diskrepanz, einen
falschen Ton, ich kann es nicht wirklich greifen. Ich schiebe die Empörung
beiseite.
»Aber
ich nehme einmal an, dass ich es doch tun muss ...
berichten.«
»Dafür
bin ich Ihnen dankbar«, sage ich. »Ich hoffe, Sie verstehen das.«
»Das
verstehe ich sehr gut«, sagt sie. »Ich sehe es Ihnen an. Also gut, es fing vor
ungefähr einem Monat an.«
»Es
fing an?«
»Ja,
es fing an. Darf ich Sie bitten, mir genau zuzuhören, denn ich werde das nur
ein einziges Mal durchgehen.«
»Ich
höre zu.«
»Gut.«
Sie
holt zweimal tief Luft, bevor sie fortfährt. »Ich bekam Besuch von einer Frau,
die mit mir über einen Traum sprechen wollte, den sie gehabt hatte.«
»Einen
Traum?«
»Ja.
Es war eine Mexikanerin, so um die dreißig, ich hatte sie noch nie zuvor
gesehen. Und sie erzählte mir, dass sie in letzter Zeit, im Laufe von zwei
Wochen, wenn ich mich nicht irre, vier oder fünf Mal den gleichen Traum
geträumt hat. Er war ganz kurz und handelte von einem kleinen Mädchen, das sie
anrief und um Hilfe bat. Es war ein sehr deutlicher Traum, nur ein paar
Sekunden lang, das Mädchen sagte, sie heiße Sarah und sei von einem Mann in
einem grünen Auto entführt worden...«
»Das
ist nicht...«, unterbreche ich, ohne zu wissen, was ich sagen will.
»Entschuldigen Sie, sprechen Sie weiter.«
»Danke.
Der Traum war offenbar jedes Mal mehr oder weniger identisch. Das Mädchen
schien so um die fünf Jahre alt zu sein, sie trug ein gelbes Kleid und eine
rote Strickjacke, und während sie die Frau um Hilfe anflehte, stand sie
tatsächlich vor einem grünen Auto. Auch die Farben erscheinen jedes Mal und
sind sehr deutlich. Gelb, rot, grün. Ich habe sie gefragt, ob es möglicherweise
eine kleine Sarah in ihrem Bekanntenkreis gäbe, aber sie hat das ganz
entschieden zurückgewiesen. Sie verriet mir außerdem, dass sie im Laufe ihres
Lebens oft Träume gehabt habe, die eingetroffen seien, dass es Warnungen
verschiedener Art und Weise gebe und dass ihre Freunde glaubten, sie habe
mediale Gaben. Wovon sie jedoch keinen Gebrauch machen will, aber sie ist sich
durchaus im Klaren darüber, wenn es sich so verhält. Aber was sie mit dem
Mädchen aus dem Traum machen sollte, das wusste sie nicht, deshalb war sie zu
mir gekommen. Sie spürte, dass das Mädchen etwas von ihr forderte - oder sie
zumindest flehentlich um Hilfe bat, und immer stärker hatte sie das Gefühl,
dass sie das Kind irgendwie im Stich lassen würde, wenn sie die Sache nicht
ernst nähme.«
Die
Unstimmigkeit ist verschwunden. Ich trinke einen Schluck Wasser und versuche
meine Gedanken zu ordnen. »Soweit habe ich es verstanden«, sage ich. »Was haben
Sie getan?«
»Eigentlich
nichts«, antwortet Geraldine Grimaux in einem Tonfall, der plötzlich leicht
vage klingt. »Ich habe ihrer Geschichte zugehört, oft ist das alles, was man
tun kann. Vielleicht kann
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