Nesser, Hakan
nicht
gedacht...«
»Ja?«
»Ich
habe nicht gedacht, dass er Kinder hatte. Abgesehen von der Tochter, die
gestorben ist.«
»Sie
scheinen eine ganze Menge über ihn zu wissen.«
»Einiges«,
gebe ich zu. »Aber nicht besonders viel. Er ist hier in New York gestorben,
nicht wahr? Nachdem seine Frau und seine Tochter in Frankreich umgekommen
sind...«
Geraldine
Grimaux hebt ihren Blick und schaut kurz an die Decke, bevor sie antwortet.
»Das ist vollkommen richtig«, sagt sie. »Er starb sechs Monate, bevor meine
Mutter geboren wurde. Ein Gasunfall, vielleicht selbst initiiert. Soweit ich
verstanden habe, hatte er keine Ahnung, dass meine Großmutter schwanger war.«
»Aber
sie hat seinen Namen angenommen? Ihre Großmutter?«
Sie
schüttelt den Kopf. »Nein. Meine Mutter. Sie hat ihn nach ihrer Scheidung
wieder ausgegraben.«
»Ich
verstehe.«
Danach
sagt gut eine Minute lang keiner von uns etwas, und es ist deutlich zu spüren,
dass wir an einem bestimmten Punkt angelangt sind. Der Staubsauger wird
ausgestellt. Ich bedanke mich bei ihr und frage sie, wie viel ich bezahlen
soll, sie lacht auf, ganz kurz, und erklärt, dass sie das nächste Mal nach
ihrem üblichen Tarif bezahlt werden möchte, sechzig Dollar, dass sie aber für
das heutige Treffen kein Geld möchte.
Nachdem
ich sie verlassen habe, schlage ich den Weg über die Barrows ein, und obwohl ich den ganzen Weg von der 7th Avenue bis
hinunter zum Fluss gehe, sehe ich nicht einen einzigen Obdachlosen. Ich gehe
weiter bis zum Pier 45 und setze mich auf dieselbe Bank, auf der ich vor zwei
Stunden gesessen bin. Immer noch kein Wind, immer noch herrscht einer dieser
klaren Herbsttage, mit denen diese Stadt so gern prahlt. Ich bleibe fünfzehn,
zwanzig Minuten sitzen, blicke hinüber nach Lackawanna, Hoboken und Weehawken und gehe im Kopf noch einmal das
Gespräch mit Geraldine Grimaux durch. Es erscheint mir unwirklich und
beunruhigend, ich bekomme keine Ordnung in die ganze Geschichte. Dann wende
ich dem North River den Rücken zu und gehe zurück in die Stadt, um mir eine
Landkarte zu besorgen; Verwirrung und Trauer können nur mit Tatendrang bekämpft
werden.
25
Während
unserer Jahre in Saaren unternahmen Winnie und ich eher selten eine Reise zu
zweit. Wir fuhren ein paar Mal jeder für sich an verschiedene Orte, da unsere
Berufe und unsere Auftraggeber es erforderten, aber einer von uns blieb immer
zu Hause bei Sarah. Oder wir nahmen sie mit.
Anfang
Dezember 2005 verbrachten wir jedoch drei Tage zu zweit in Venedig. Ich musste
einige einfache Recherchen betreiben, und wir beschlossen, dass Winnie
mitkommen sollte. Unser Kindermädchen Anna rückte einfach drei Häuser weiter
und wohnte während dieser Tage bei uns statt bei den Nesbiths, das war eine
einfache Abmachung.
Wir
kamen in der einsetzenden Nachmittagsdämmerung an, nahmen ein Vaporetto zu
unserem Hotel, das nur wenige Minuten von San Marco entfernt lag, und ich kann
mich erinnern, dass es Winnie vor Entzücken fast die Sprache verschlug. Es war
ihr erster Besuch in Venedig, und sie konnte kaum glauben, dass es diese Stadt
wirklich gab. Dass es nicht alles nur Kulissen waren, die Kanäle, die Gassen,
die Brücken und Gewölbe.
Wir
nahmen ein romantisches, teures Essen in einem Restaurant in der Nähe von San
Luca zu uns, und dann liefen wir mehrere Stunden lang im Nebel in dieser
unwirklichsten, traumhaftesten aller Städte herum. Wir liebten uns natürlich, und
ich glaube, es war schon nach vier Uhr morgens, als wir einschliefen.
Als
wir am nächsten Morgen aufwachten, war Winnie betrübt, sie wollte zuerst nicht
sagen, warum, aber schließlich erklärte sie, dass es daran läge, dass sie in
einem Traum ein böses Omen gehabt habe.
»Etwas
bedroht uns heute. Ich weiß nicht, was, aber wir müssen auf der Hut sein.«
»Bedroht
uns?«, fragte ich nach.
»Ja«,
antwortete sie. »Jemand oder etwas ist hinter uns her, aber ich weiß nicht, um
was es sich handelt, deshalb brauchst du gar nicht weiter zu fragen. Wir müssen
nur vorsichtig sein. Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns heute nicht
trennen.«
Es
war nicht besonders üblich, dass Winnie diese Art von Vorahnung hatte, aber es
war schon vorgekommen, und ich hatte gelernt, sie ernst zu nehmen. Oder dem
Ganzen zumindest Respekt zu erweisen. Wir hatten auch keinen triftigen Grund,
uns an dem Tag zu trennen; Winnie folgte mir zu den drei, vier Orten, die ich
für meine Recherchen aufsuchen musste - unter anderem
Weitere Kostenlose Bücher