Nesser, Hakan
man sagen, dass ich die Verantwortung übernommen
habe.«
»Die
Verantwortung?«
»Ja.«
»Und
für was?«
Sie
antwortet nicht. Ich überlege.
»Die
Farben stimmen nicht«, sage ich. »Sarah war nicht so gekleidet.«
»Ich
weiß«, sagt Geraldine Grimaux. »Ihre Frau hat das auch erwähnt.«
»Warum...
warum ist sie ausgerechnet zu Ihnen gekommen, diese Mexikanerin?«
Sie
zuckt mit den Schultern. »Vielleicht hat sie von mir gehört, so finden die
Menschen manchmal hierher. Wir haben nie darüber gesprochen, und ich habe auch
nie wieder Besuch von ihr bekommen. Dafür aber...«
»Ja?«
»Dafür
aber tauchte eine Woche später ein anderer Klient auf, ein Mann, der ab und zu
bei mir vorbei schaut. Er ist eine sehr zerbrechliche Person, die oft Stimmen
hört und manchmal von allen möglichen Wahnvorstellungen heimgesucht wird. Er
behauptet beispielsweise, er könnte mit den Vögeln sprechen. Er gehört zu den
wenigen noch existenten Obdachlosen dieser Stadt, aber er schläft nicht aus Not
auf dem Bürgersteig, sondern weil er das so will. Ab und zu übrigens nur,
meist ist er in seiner Wohnung, die nicht weit von hier entfernt liegt. Ich
kenne ihn seit dreißig Jahren, er ist eine... ja, eine ziemlich spezielle
Person.«
Ihre
Stimme hat einen neuen Klang angenommen, während sie von diesem »Klienten«
erzählt, und ich verstehe, dass er etwas für sie bedeutet. Außerdem stelle ich
fest, dass der Metallgeschmack in meinem Mund verschwunden ist.
»Was
er zu erzählen hatte: Er wurde an seiner Ecke der Barrow, dort, wo er sich immer aufhält, an zwei Morgen nacheinander
ganz früh von einem Mann angesprochen, der ihn gebeten hat, mich aufzusuchen,
um mir eine Nachricht zu überbringen.«
»Was?«,
rutscht es mir heraus.
»Ich
habe ja gesagt, dass es eine merkwürdige Geschichte ist«, erklärt Geraldine
Grimaux mit einem kurzen Lächeln. Es ist das erste Mal während unseres
Gesprächs, dass sie lächelt, und es sieht fast so aus, als bereute sie es auch
gleich. »Die Nachricht, die mein Klient erhielt, war jedenfalls klar und deutlich. Geh zu Grimaux und sag ihr, dass Sarah in Meredith ist.«
»Sarah
ist in...?«
Ich
kneife mich fest in die Daumenfalte, um diesen aus der Bahn geratenen Traum zu
beenden, diese Phantasmagoric, aber
es nützt nichts. Ich ziehe den vorläufigen Schluss, dass ich wach bin.
»In Meredith, ja. Und nach der
wiederholten Ermahnung beschloss mein Klient also, den Auftrag auszuführen und
mit der Botschaft hierherzukommen.«
»Sarah
ist in Meredith?«
»Genau.
Mein Klient behauptete, er habe diesen Mann, der ihm diese Botschaft
überbrachte, nie zuvor gesehen, aber ich habe ihm versprochen, die Nachricht
bis auf weiteres zu verwahren. Er war ein wenig beunruhigt, kein Zweifel, und
ich habe ihn seitdem nicht wiedergesehen. Ja, und dann ...«
»Und
dann?«, frage ich.
»Und
dann kam also Ihre Frau hierher. Wenn ich mich recht erinnere, dann war es der
25. September, an dem ich sie zum ersten Mal getroffen habe. Ich kann das
nachprüfen, wenn Sie möchten. Sie hat mir ihre Geschichte erzählt, ich habe
zugehört, und...«
»Einen
Augenblick«, bitte ich. »Warum ist sie hierhergekommen? Was hat Winnie dazu
gebracht, sich ausgerechnet an Sie zu wenden?«
Geraldine
Grimaux lehnt sich zurück und denkt nach. »Ich weiß nicht so recht, wie ich
damit jetzt umgehen soll«, sagt sie nach einer Weile. »Ihre Frau hat mich nicht
ausdrücklich darum gebeten, Ihnen nichts zu sagen, wir haben diese Möglichkeit
ganz einfach nicht besprochen. Aber ich weiß trotzdem nicht so recht, wie...?«
»Was
hindert Sie daran?«, frage ich und spüre, wie erneut Wut in mir aufsteigt.
»Ein
Gefühl«, sagt sie. »Mein Gefühl dafür, was richtig und was falsch ist. Mir wird
oft etwas anvertraut, große und kleine Dinge, und es ist wichtig, dieses
Vertrauen nicht zu missbrauchen. Manchmal wird eine echte Vereinbarung darüber
getroffen, manchmal bleibt es unausgesprochen, gilt aber genauso.«
»Aber
Winnie hat Sie nicht gebeten, zu schweigen?«
»Nein,
das hat sie nicht. Aber ich versuche ein Gefühl dafür zu entwickeln, ob sie es
nicht dennoch erwartet hat. Sie hat ganz einfach nicht gedacht, dass Sie
hierherfinden werden.«
»Aber
Sie sind nicht verwundert darüber, dass ich hier bin?«
»Nein.
Ich bin nur äußerst selten verwundert.«
Sie
lässt die Schultern fallen und schließt die Augen. Bleibt so eine halbe Minute
lang still sitzen. Vielleicht auch eine oder zwei Minuten, in diesem
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