Nesser, Hakan
Wie nicht gekeimte Samen unter
einer harten Erdkruste, ich habe keine Ahnung, wie sie bei Tageslicht
betrachtet aussehen werden.
Ich
gebe den Wagen fünf Minuten vor Geschäftsschluss in der Thompson Street ab,
dann setze ich mich in die erstbeste Bar - Ecke Sullivan, Bleecker, wie sich zeigt. Ich trinke schnell hintereinander
drei Gläser Rotwein, während ich einem kleinen japanischen Jazzpianisten
lausche. Zivilisation, denke ich. Stadt. Menschen,
die sich Kunst anschauen und ab und zu Austern essen.
Dann
gehe ich heim in die Carmine Street.
Auf dem Flur gleich hinter der Wohnungstür liegt ein Umschlag mit Winnies Namen
in eckigen Versalien. Keine Adresse, nur der Name; ich zögere nicht lange, ich
reiße ihn auf, sobald ich festgestellt habe, dass sie nicht zurückgekommen ist,
während ich oben in den Catskills war und nach ihr gesucht habe. Ich habe kein
schlechtes Gewissen, dass ich es tue.
Die
Nachricht ist nur drei Zeilen lang.
Wir sind für ein paar Tage in der Stadt.
Wohnen im Washington Square Hotel.
212-3120-5250.
Liebe Grüße, Barbara, und Fingall
Kripnik
30
Ich
brauche ein paar Sekunden, bevor mir einfällt, wer das ist.
Ich
kann mich nur an ein einziges Mal erinnern, an dem ich mit Sarah über den Tod
gesprochen habe. Aber dafür erinnere ich mich an dieses Gespräch noch fast Wort
für Wort.
Es
war ein Abend, ein paar Wochen nachdem Winnie und ich aus Venedig zurück waren,
und der direkte Anlass war, dass die Mutter von Frau Nesbith gestorben war. Sie
hatten tagsüber darüber gesprochen, Emily und Casper, Anne und Sarah.
»Ich
würde gern hinfahren und es mir angucken«, sagte Sarah.
»Wohin?«,
wollte ich wissen.
Ich
saß auf ihrer Bettkante, ein Buch auf den Knien, bereit, die abendliche
Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen.
»Ins
Land der Toten«, sagte Sarah. »Dorthin, wohin die Toten gehen, wenn sie hier
weggehen. Die Oma von Casper und Emily ist gestern dorthin gegangen.«
»Wer
hat dir das erzählt?«, fragte ich vorsichtig.
»Anne«,
antwortete Sarah. »Aber das wissen alle, Casper und Emily wissen auch, dass es so
ist. Weiß du, wie es da aussieht?«
»Im
Land der Toten?«
»Ja.«
»Nein«,
musste ich zugeben. »Ich weiß nicht, wie es im Land der Toten aussieht.«
»Warum
nicht?«, fragte Sarah. »Du liest doch so viele Bücher.«
»Niemand
kann wissen, wie es im Land der Toten aussieht«, erklärte ich.
»Warum
nicht?«
»Weil
man aus dem Land der Toten nicht wieder zurückkehren kann.«
»Aber
die Oma von Casper und Emily weiß jetzt, wie es da
aussieht? Und meine Oma und mein Opa und...«
»Ja«,
antwortete ich. »Natürlich wissen sie das. Aber sie können nicht zu uns
zurückkommen und es uns erzählen.«
»Kann
man nicht nur für einen kurzen Moment zurückkommen?«
»Nein.«
»Nur
für eine winzig kleine Sekunde?«
»Nein.«
»Können
sie nicht anrufen und es uns erzählen?«
»Nein.«
»Oder
schreiben?«
»Nein,
das geht leider nicht, Sarah.«
»Warum
nicht?«
»Ich
weiß es nicht. Es gibt niemanden, der genau sagen kann, wie es um diese Dinge
steht. Vielleicht könnten die Toten uns in unseren Träumen besuchen und davon
erzählen, es gibt viele, die das glauben.«
»In
den Träumen?«
»Ja.«
»In
meinen Träumen auch?«
»Ich
weiß es nicht. Vielleicht.«
»Warum
sagst du die ganze Zeit, dass du es nicht weißt? Versuchst du mich
reinzulegen, Papa?«
»Warum
sollte ich versuchen, dich reinzulegen?«
»Weil...«
Ich weiß noch, dass sie eine ganze Weile dalag und nachdachte, bis sie die
richtigen Worte fand. »Weil irgendwas Grässliches am Tod ist. Irgendwas
Schlimmes, und du willst nicht, dass ich davon unruhig werde.«
»Ich
verstehe nicht ganz, was du meinst, Sarah.«
»Na,
wie beim Fernsehen, wenn ich nicht gucken darf. Widerliche Sachen. Ist der Tod
so eine widerliche, grässliche Sache, Papa?«
»Das
kommt drauf an. Es gibt Leute, die das finden. Manchmal kommt es vor, dass
Menschen sterben... ja, dass sie unnötig sterben. Aber wenn man sein Leben
leben darf und alt wird und erst dann stirbt, dann ist es nichts, wovor man
Angst haben muss.«
»Kann
man jeden Moment sterben?«
»Ja,
aber es muss...«
»Kann
ich jetzt sterben?«
»Nein,
meine liebe Sarah, das kannst du natürlich nicht.«
Wieder
überlegte sie. »Gut. Denn ich habe keine Lust, jetzt zu sterben. Ich glaube,
ich möchte hundert Jahre alt werden.«
»In
Ordnung. Dann beschließen wir, dass du hundert Jahre alt wirst.«
»Kann
man das selbst
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