Nesser, Hakan
entscheiden?«
»Na,
man kann es ja versuchen, oder nicht? Soll ich dir jetzt vorlesen?«
»Nein,
Papa, ich glaube nicht. Ich möchte lieber noch ein bisschen über den Tod
nachdenken.«
»Aber
du hast doch keine Angst, Sarah?«
»Nein,
Papa, ich habe überhaupt keine Angst. Aber geh jetzt, damit ich noch ein
bisschen nachdenken kann, bevor ich einschlafe.«
Und
ich ließ sie dort zurück, mit dem Tod. Im Nachhinein, wenn ich über diese
kleine Episode nachdenke, fällt es mir schwer zu verstehen, wieso ich es getan
habe. Aber sie war wirklich hartnäckig.
»Geh
jetzt, Papa. Ich will allein sein, wenn ich über den Tod nachdenke.«
»Soll
ich die Tür angelehnt lassen?«
»Nein,
Papa. Ich will, dass du die Tür richtig zumachst.«
Als
ich Winnie am 7. Mai 2006 in der Badewanne gefunden habe, wusste ich nicht, ob
ich jemals wieder Kontakt zu ihr bekommen würde. Ich begriff zwar fast sofort,
dass sie am Leben war, aber ich hatte keine Ahnung, inwieweit sie es schaffen
würde oder nicht.
Die
Ungewissheit dauerte ungefähr fünf Stunden - bis zu dem Augenblick, als eine
Ärztin, deren Namen ich vergessen habe, zu mir in das Wartezimmer des
Krankenhauses kam, an das man mich verwiesen hatte, und mir erklärte, dass
meine Ehefrau sich außer Lebensgefahr befand und dass sie keine anhaltenden
körperlichen Schäden davontragen würde - und ich glaube, ja, ich bin überzeugt
davon, dass mir während dieses Zeitabschnittes etwas Entscheidendes widerfuhr.
Ich
weiß nicht so recht, was, aber ich weiß, dass. Immer
mal wieder habe ich einen zögerlichen Versuch unternommen, es in Worte zu
fassen, aber es hat nie geklappt. Also versuche ich es jetzt noch ein weiteres
Mal. Da war etwas, so möchte ich behaupten, da war etwas mit meinen Sinnen und
deren Empfänglichkeit, die Welt aufzunehmen. Mit meiner Wahrnehmung und meinem
Verhalten sowohl mir selbst als auch meiner Umgebung gegenüber.
Vor
allem während ich in dem kleinen Raum saß, regungslos, die gefalteten Hände
zwischen den Knien, und mit einem fremden und gleichzeitig vertrauten Gefühl,
dass mich eigentlich nichts betraf und dass sich allmählich etwas um meinen
Kopf stramm zusammenzog, da, in erster Linie, da geschah es und veränderte
sich.
Alles
schien geradezu zu schrumpfen und zu pulsieren, aber nicht in der Art, wie es
unter einer schweren Fieberattacke geschieht, sondern langsam, deutlich
langsamer, und ich hatte das Gefühl, als überschritte ich eine Art Grenze, als
würde ich irgendwie fallen - eher im Herzen und in der Seele als im Körper -,
und mir gegenüber an der Wand hing ein Bild, ein kleines Ölgemälde, nicht
größer als ungefähr dreißig mal dreißig Zentimeter, es war abstrakt und in
kräftigen Farben gehalten, überwiegend blau und orange, und es stellte absolut
nichts dar. Vielleicht stellte es tatsächlich Nichts dar, und da es so gut wie nichts anderes gab, an das ich
meinen Blick in diesem Zimmer hätte heften können, blieb ich also sitzen und
schaute dieses Gemälde an. Der Name des Künstlers begann mit Z, der Rest war
unleserlich - und plötzlich, nach einer oder ein paar Sekunden nur, nach einer
oder einigen Stunden, aber die Zeit hatte nicht die Herrschaft in diesem Warteraum
des Todes, trat plötzlich ein Gesicht hervor.
Es
war ebenso deutlich, als wenn jemand da gewesen wäre und das Bild gegen ein
anderes ausgetauscht hätte, und es hatte etwas mit meinem Schrumpfen, mit
meinem fallenden Herzen zu tun, und als ich das Gesicht sah, überfiel mich eine
Einsicht, die ich im Nachhinein nicht beschreiben kann.
Aber
klar, vollkommen klar und durchscheinend war sie, und das Gesicht konnte allein
dank dieser einzigartigen Klarheit erfasst werden. Während das vor sich ging -
während dieser fünf oder fünfzig oder fünfhundert Sekunden - konnte ich auch,
ohne den geringsten Zweifel zu hegen, die Botschaft des Bildes erkennen und
verstehen, soweit ein Gesicht eine Botschaft haben kann, aber als es vorüber
war, war ich nicht einmal mehr in der Lage zu sagen, ob es einen Mann oder
eine Frau dargestellt hatte.
Ich
merke, dass es mir auch dieses Mal nicht gelingt, das Geschehene in Worte zu
fassen, und vielleicht ist es ja auch weder möglich noch notwendig. Vielleicht
verhält es sich genau so, wie Winnie immer behauptet: das Schweigen und die
Abwesenheit von Worten sprechen auch eine Sprache. Eine starke, unbezwingbare
Sprache - vielleicht auch hinsichtlich des Augenblicks, in dem der Betrachter
betrachtet wird:
Das
gab
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