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Nesser, Hakan

Nesser, Hakan

Titel: Nesser, Hakan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Perspektive des Gaertners
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es. Das wird es niemals wieder geben. Denke daran.
    Auf
jeden Fall wurde ich ein anderer. Ich bin niemals wieder in dieses kleine
Wartezimmer im Krankenhaus von Saaren zurückgegangen, aber ich habe ab und zu
über das Bild nachgedacht und über all die Menschen, die dort schon gesessen
und das Bild unter den Flügeln des Todes betrachtet haben müssen. Es müssen ja
unendlich viele gewesen sein, jeden Tag neue, einsame Menschen mit traurigen
Herzen im Warteraum der Verzweiflung.
    Ich
hätte mit Winnie darüber sprechen sollen, aber ich habe es versäumt. Auch das
habe ich versäumt.
     
    In
den zwei Wochen direkt nach Sarahs Verschwinden bewachte die Polizei unser
Haus. Verschiedene Wagen mit verkniffenen Polizisten darin standen an
verschiedenen Stellen in der Wallnerstraat, und unser Telefon wurde ständig
überwacht. Falls die Kidnapper von sich hören lassen würden, wollte man auf
keinen Fall die Chance versäumen, ihre Spur aufzunehmen.
    Doch
niemand ließ je von sich hören. Nicht, um irgendeine Lösegeldsumme zu fordern,
und auch nicht aus irgendeinem anderen Grund. Wenn ich nicht bei Winnie im
Krankenhaus war, lief ich meistens in unserem Haus herum und fühlte mich wie
eine Ratte in einem Käfig. Eine bewachte und immer reduziertere Ratte. Bei
einigen Gelegenheiten war die Polizei auch im Haus, Kommissar Schwarz oder
Tupolsky und Vendler, die versuchten, Informationen aus mir herauszupressen -
aber ich hatte strikte Anweisungen, kein Gespräch mit irgendeinem der Beamten
in den Autos anzufangen.
    Was
ich auch nicht tat, aber eines frühen Morgens ereignete sich etwas, wofür ich
nie eine Erklärung erhielt. Ich glaube, es war der 12. Mai, also eine Woche
nach Sarahs Verschwinden. Von der Sache selbst erhielt die Polizei nie
Kenntnis, aber ich bin mir sicher, selbst wenn ich ihnen gegenüber etwas
erwähnt hätte, sie hätten auch kein erhellendes Licht darauf werfen können.
    Ich
wurde kurz nach fünf Uhr davon geweckt, wie jemand an mein Schlafzimmerfenster
klopfte. Ich hatte höchstens ein paar Stunden geschlafen, aber das Klopfen
hörte sich sehr eindringlich an, und ich war augenblicklich wach. Setzte mich
im Bett auf und starrte aus dem Fenster auf eine frühe Morgendämmerung.
Draußen war nichts zu sehen, keine Bewegung und kein Mensch; ich erinnere mich,
dass ich für einen kurzen Moment Probleme hatte, meinen Platz in dem
Koordinatensystem zu finden, das Leben genannt wird, aber bald, nach ein paar
Sekunden höchstens, standen mir alle Tatsachen klar vor Augen. Sarah, Winnie,
die Badewanne, einfach alles.
    Ich
eilte ans Fenster, öffnete es und spähte hinaus. Draußen gab es nichts zu
entdecken, nur die üblichen Berberitzenbüsche, den Pflaumenbaum und die
überwucherte Steinmauer, die die Grenze zwischen unserem Grundstück und dem der
Nachbarfamilie Jokinens markierte. Ich unterdrückte den Impuls, einfach auf
den Rasen hinauszuspringen und die Verfolgung aufzunehmen, und tat stattdessen
das, was mir gesagt worden war: Ich rief den wachhabenden Beamten im Auto
draußen auf der Straße an.
    Ich
weiß heute noch nicht, ob ich von Anfang an eine falsche Nummer erhalten hatte
oder ob ich in meinem verschlafenen Zustand die eine oder andere Taste falsch
getippt habe. Auf jeden Fall war es eine zerbrechliche Frauenstimme, die
antwortete.
    »Danke«,
sagte sie. »Danke, mein Freund, dass du angerufen hast.«
    »Wie
bitte?«, fragte ich.
    »Danke«,
wiederholte sie. »Ich wusste, dass es dich gibt und dass du mir schließlich
doch zuhören würdest.«
    Anschließend
führte ich das merkwürdigste Telefongespräch meines Lebens. Die Frau hieß
Margarete, das ist eigentlich so ziemlich alles, was ich über ihre Identität
erfuhr. Sie befand sich - aus Gründen, von denen ich nur eine dunkle Ahnung
erhielt - in einer schweren Lebenskrise; so schwer, dass sie in dieser Nacht
beschlossen hatte, sich das Leben zu nehmen. Bevor sie jedoch zu Werke
schritt, schickte sie ein verzweifeltes Gebet an Gott, an den sie trotz allem
glaubte; sie bat ihn, ihr zumindest einen Beweis für seine Existenz zu
schicken, indem er auf irgendeine Art und Weise einen Funken Lebenswillen und
Hoffnung in ihr entfachte. Beispielsweise durch ein Telefongespräch; ja,
letztendlich machte sie ihr Leben davon abhängig, gab Unserem Herrgott eine
Minute. Wenn sie nicht innerhalb der nächsten sechzig Sekunden ein Gespräch
bekäme, dann würde sie die Giftmischung trinken, die ihr Leben innerhalb
weniger Minuten sanft beenden sollte.

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