Nesser, Hakan
bin mir dessen nicht sicher.
»Sarah,
hab keine Angst! Ich versuche nur reinzukommen!«
»Papa?«
Eine
Spur mehr Leben in der Stimme, als würde sie langsam begreifen, dass hier
tatsächlich etwas passiert.
»Ich
glaube... ich glaube, ich muss das Schloss aufschießen. Ich habe ein Gewehr,
das wird einen ziemlichen Knall machen, aber du brauchst keine Angst zu haben,
Sarah. Versprich mir, dass du keine Angst hast. Geh weg von der Tür, ich werde
auf das Schloss schießen, verstehst du?«
»Ja...?«
»Verstehst
du, was ich sage, Sarah? Du darfst da nicht stehen bleiben, sonst kann dich die
Kugel treffen.«
»Ich
verstehe.«
Und
ich spüre, dass dem so ist. Plötzlich erkenne ich ihre Stimme wieder; ein
Tränenkloß platzt in meinem Schlund, und ich muss ein paar Sekunden warten,
bevor ich ihn bewältigt habe und mich auf den Schuss konzentrieren kann. Ich
habe keine Ahnung, ob man den Schließmechanismus treffen muss, es handelt sich
hier natürlich um ein weiteres altes Filmklischee, aber irgendwie muss es
klappen, denke ich. Wenn nicht beim ersten Versuch, dann muss ich es eben noch
ein zweites oder drittes Mal versuchen. Ich muss ein Loch in diese verfluchte
Tür kriegen, die zwischen mir und meiner Tochter steht. Nichts ist jemals
wichtiger gewesen. Ich lege den Kolben an die Schulter, ziele und drücke ab.
Der
Knall ist auch dieses Mal ohrenbetäubend, aber etwas dumpfer und gedämpfter
hier im Haus. Holzsplitter fliegen aus der Türplatte, ein großes Loch wird
direkt unter der Klinke aufgerissen, und als ich vorsichtig den Griff
hinunterdrücke, gleitet die Tür auf gut geölten Scharnieren auf.
Es
gibt so eine Art von Augenblick, in dem die Zeit in ein schwarzes Loch fällt.
Das, was gewesen ist, und das, was kommen wird, wird hineingesogen, und das
spezifische Gewicht eines ganzen Lebens liegt gesammelt in einem zitternden
Punkt von Präsenz.
Wir
stehen still, sehen einander an, und wir begreifen beide, dass das hier die
Frage so eines Augenblicks ist. Sie ist erst sechs Jahre alt, trotzdem weiß sie
es. Ich strecke ihr die Hände entgegen, und langsam, ganz langsam, als liefe
sie über brüchiges Eis oder auf einem durchhängenden Seil, kommt sie mir
entgegen. Ich hebe sie hoch, und das ist eine Bewegung, die mir wie ein
Schöpfungsakt erscheint. Ich entziehe meine Tochter dem Tod und gebäre sie
wieder ins Leben; ich drücke ihren dünnen, fast ausgemergelten Körper an mich,
sie legt mir die Arme um den Hals, und wir atmen gemeinsam vor Rührung, die
wächst und wächst und schließlich explodiert oder vielleicht auch implodiert,
in etwas, das hundert Prozent Weinen und hundert Prozent Lachen ist.
Nein,
tausend.
Dann
trage ich sie aus dem Zimmer. Vorsichtig gehe ich mit ihr auf meinen Armen den
dunklen Korridor entlang, und ich denke, dass es mir lieb wäre, wenn er fünf
Kilometer lang wäre bis zur Treppe statt nur fünf Meter, aber während dieser
wenigen Schritte gelingt es Bernard Grimaux dennoch, in meinem Kopf
aufzutauchen, ausgerechnet er, man kann sich fragen, wie so etwas möglich ist,
aber es gibt keinen Zweifel, es ist der arme, verfrorene französische Poet, der
in einer nur schwach erleuchteten Ecke meiner Wahrnehmung steht, schlecht
gekleidet in einem abgewetzten schwarzen Anzug, er hat einen Reisekoffer aus
Pappe dabei, und das Einzige, an das er mich erinnern will, ist, dass er seine
Frau und seine Tochter verloren hat, sie sind bei einem Schiffsunglück im
Mittelmeer ertrunken, und er steht jetzt im Begriff, sich in die große Stadt auf
der anderen Seite des Meeres zu begeben, um eine letzte Gedichtsammlung zu
schreiben, sich das Leben zu nehmen und dann womöglich mit ihnen wieder vereint
zu werden. Während ich, der ich diese zögernden Schritte über den halbdunklen
Flur mehr als sieben Jahrzehnte später gehe und fünf deutlich überbewertete Romane
hinter mir habe, während ich sowohl Frau als auch Tochter noch habe. Das ist
der große Unterschied, scheint er sagen zu wollen. Das sind die Feuer.
die
verwundert
den
Stimmen von oben lauschen,
die
Richtung ändern und aufeinandertreffen,
wie
aus Zufall.
Und
ich gelange zum Treppenabsatz, und Sarahs Kopf ruht schwer und sicher auf
meiner Schulter. Wir sagen nichts, das ist nicht nötig. Nach zwei oder
vielleicht drei Stufen werde ich von einem Räuspern gestoppt, ich muss während
dieser sonderbar langgezogenen Sekunden wie im Traum gegangen sein, und mir
wird klar, dass er dort steht und seine Waffe auf
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