Nesthäkchen 01 - Nesthäkchen und ihre Puppen
ihr Leben lang als Kahlkopf durch die Welt laufen!« jammerte Annemarie aufs neue.
»Das wird er schon nicht vergessen, Herzchen, ich hab's ihm ja aufgeschrieben, und zum Überfluß kann ich ihn ja noch mal daran erinnern«, beruhigte sie Fräulein.
»Sprichst du ihn denn, Fräulein?« Annemarie horchte auf, und ihre Tränen begannen langsamer zu fließen.
»Freilich«, nickte Fräulein Lena. »Vier Wochen vor Weihnachten, da fragt er jeden Abend bei mir an, ob du artig oder unartig am Tage gewesen bist.«
»Erzählst du ihm immer alles ganz genau, Fräulein, jedesmal, wenn ich geheult habe?« erkundigte sich Nesthäkchen etwas kleinlaut.
»Natürlich, ich muß ihm doch die Wahrheit sagen«, meinte Fräulein Lena. »Auch daß ich heute über Gerdas Kahlkopf geweint habe, sagst du ihm?«
»Ja, aber darüber wird er nicht böse sein, du hast ja nicht aus Ungezogenheit, sondern nur aus Mitleid geweint«, war die beruhigende Antwort.
»Laß dich bloß nicht mal aus Versehen von ihm in den Sack stecken, Fräulein!« Nesthäkchen machte ein halb ängstliches, halb schelmisches Gesicht bei dieser Vorstellung.
»Ich werde mich schon vorsehen«, lachte Fräulein Lena. »Aber wolltest du denn nicht deine Schuhe abends für Knecht Ruprecht vor die Tür setzen, wie Elli, Herbert und Peter in Arnsdorf das vor Weihnachten immer tun, Annemarie?«
»Ja, weißt du, Fräulein, ich wollte es ja schrecklich gern. Denn wenn die Kinder am Tage artig gewesen sind, legt ihnen Knecht Ruprecht immer einen goldenen Faden und Pfeffernüsse in die Schuhe, und wenn sie unartig waren, einen Silberfaden und weiter gar nichts. Aber Klaus sagt, das macht Knecht Ruprecht nur in Arnsdorf, unser Berliner Knecht Ruprecht tut das nicht.«
»Aber Herzchen, es gibt doch nur einen Knecht Ruprecht für die ganze Welt, das ist doch ein und derselbe in Arnsdorf und in Berlin«, belehrte sie Fräulein Lena.
»Auch für Amerika?« Nesthäkchen schüttelte ungläubig den Kopf.
»Aber natürlich, sogar für Afrika.«
»Na, dann möchte ich aber wissen, wie der an einem Abend in Berlin und in Amerika, in Arnsdorf und in Afrika nach all den vielen Kindern herumfragen kann«, ereiferte sich Annemarie. »Dann hat er sicher Siebenmeilenstiefel oder wenigstens ein Flugzeug.«
»Es wird wohl ein Flugzeug sein«, entschied Fräulein Lena die schwierige Frage, »ich habe es schon manchmal abends surren hören. Aber ich würde es doch jedenfalls mal probieren, Annemariechen, und die Schuhe vor die Tür setzen.«
Nesthäkchen nahm sich heute noch viel mehr zusammen als sonst. Ja, als Klaus die verwandelte Gerda entdeckte und jubelnd mit dem kleinen Kahlkopf im Zimmer herumtanzte und dazu sang: »Die Gerda hat den Zopf verloren, sie sieht jetzt aus wie abgeschoren!« gab ihm Annemarie in ihrer Empörung nicht zwei Püffe, wie sie erst gewollt, sondern nur einen.
Das war doch entschieden sehr artig.
Am Abend stellte Annemarie sorgsam ihre roten Hausschuhchen für Knecht Ruprecht vor die Kinderstubentür, und daneben baute sie sämtliche Puppenschühchen auf, denn ihre Kinder wollten doch auch einen Goldfaden und Pfeffernüsse haben. Da standen Gerdas Goldkäferschuhchen, Irenchens Lackschuhe, Mariannchens braune Schnürstiefel, Lolos weiße Lederschuhe, Babys gestrickte Wollschuhchen und von dem wilden Kurt nur ein zerlöcherter Stiefel. Der andere trieb sich Gott weiß wo herum.
Klein-Annemarie aber lag horchend mit Gerda im Bett.
Kam denn Knecht Ruprecht noch immer nicht? Annemarie wollte ihn doch so schrecklich gern mal belauschen!
Surrrr - rrrrr - deutlich vernahmen die zwei ein lautes Surren draußen im Hof.
»Du, Gerda, hörst du, das ist Knecht Ruprechts Flugzeug!« flüsterte Annemarie aufgeregt.
Aber Gerda schüttelte den verbundenen Kopf: »Ach Unsinn, das war doch bloß der Fahrstuhl!«
Nein, sicher war es das Flugzeug gewesen; denn jetzt kam es tap - tap mit schweren Stiefeln den Korridor entlang, bis zur Kinderstubentür.
»Hörst du ihn?« fragte Klein-Annemarie und wagte kaum zu atmen. Aber Gerda war wieder anderer Meinung als ihre kleine Mama: Das konnte doch ebensogut die Frieda sein, die sich alle Puppenschuhchen zum Putzen holte.
Vergeblich sperrte Annemarie ihre kleinen Ohren auf. Nichts ließ sich mehr vernehmen, weder Knecht Ruprecht noch Fräuleins Stimme, die ihm doch Bescheid sagen wollte.
Ach Gott, wenn Fräulein nun vergaß, Knecht Ruprecht zu bestellen, daß Gerda neue Haare brauchte, wenn das arme Ding Zeit ihres Lebens so
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