Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
Obersekundaner wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war ja ganz schön, Pfadfinder zu sein, aber daneben noch Kindermädchen spielen zu müssen, das war denn doch ein bißchen zu anstrengend.
»Wie werd‘ ich denn!« Annemarie setzte sich mit ihrem quakenden Säugling der Sicherheit halber lieber hin. »Sieh mal, es kennt mich schon. Es denkt sicherlich, ich bin seine Mutter, und dich hält es gewiß für seinen Vater«, Annemarie mußte bei diesem Gedanken laut loslachen.
Aber der kleine Erdenbürger aus ihrem Arm schien nicht viel Sinn für Humor zu haben. Der hatte in seinem kurzen Leben wohl schon zu viel Ernstes erlebt. Oder hatte ihn Annemaries lautes Lachen erschreckt? Genug, das Mündchen verzog sich wieder weinerlich, und ein neues Konzert begann - diesmal unvergleichlich lauter, wenn auch nicht melodischer.
Es half nichts, Nesthäkchen mußte wieder aufstehen und den Schreihals hin und her schaukeln.
Der Obersekundaner sah dem kleinen Schwesterchen bewundernd zu. Tatsächlich, so ein Mädel verstand das doch besser, und wenn es selbst noch solch ein kleines Ding war wie Nesthäkchen. Geradezu etwas Mütterliches hatte die Art, mit der Annemarie den schreienden Säugling zu beruhigen suchte.
»Hat es keine Eltern mehr?« Da das Wickelkind gerade eine Schreipause machte, um neue Kräfte zu sammeln, regte sich die berechtigte Neugier nach dem Herkommen der ihr ins Haus geschneiten lebendigen Puppe bei Annemarie.
»Das weiß der Himmel allein«, Hans zuckte die Achsel. »Ostpreußische Flüchtlinge haben das Wurm irgendwo bei der Flucht an der Wegböschung aufgelesen und mit nach Berlin gebracht. Ob die Eltern es bei der Eile und Hast verloren haben, ob sie überhaupt noch leben, das weiß kein Mensch. Ebensowenig wie den Namen oder den Geburtsort des Kleinen. Ich sollte ihn ins Findelhaus bringen, aber da war alles voll. Man schickte mich von einer Kleinkinderkrippe zur andern, überall wurden wir wegen Überfüllung abgewiesen. Bis ich die Sache satt bekam und das Wurm einfach mit nach Hause genommen habe. Wir haben ja genug Platz und soviel Milch, wie so’n winziges Ding braucht, fällt wohl auch noch ab.«
»Fein, daß du’s mitgebracht hast, Häuschen. Ich will es an Kindes Statt aufziehen«, ließ sich Nesthäkchen wichtig vernehmen. »So’n armes Kleines kennt seine Eltern nicht mal und wird sie auch vielleicht niemals kennen lernen!« Annemarie hatte Tränen tiefen Mitleids in den Augen. Wieder ward ihr das furchtbare Elend, das ein Krieg mit sich bringt, offenbar. Und da weinte sie jeden Abend, bloß weil Vater und Mutter nicht bei ihr waren! Hatte sie nicht noch allen Grund, dem lieben Gott dankbar zu sein, wenn sie das elternlose, in der Welt herumgestoßene Würmchen hier sah?
Das mußte wicht selbst inniges Mitleid mit sich empfinden, denn es ließ wieder ein jammervolles »äääh - äääh - äääh« ertönen.
»Am Ende hat es Hunger«, Nesthäkchen war ziemlich ratlos dem brüllenden Bündel gegenüber. »Da - nimm es mal, Hänschen, ich hole ihm inzwischen was zu essen.«
»Leg‘ es lieber aufs Sofa«, der Obersekundaner hatte genug vom Kinderwarten.
»Nee - da könnt es runterrollen. Aber weißt du was, Hans, in meinen großen Puppenwagen, da wird es gerade reinpassen - au famos!« Der Wildfang hätte beinahe vor Freude über diesen Einfall einen Luftsprung mit dem Säugling vollführt.
Aber zum Glück schrie der Kleine in diesem Augenblick so wütend los, daß Nesthäkchen erschrocken innehielt.
Hans mußte sich nun doch bequemen, Vaterpflichten zu übernehmen und mit dem Schreihals in der Stube auf und ab zu traben, während Annemarie ihre sämtlichen Puppen, Lolo, Mariannchen, Kurt, Irenchen, und wie sie alle hießen, um die sie sich setzt eigentlich gar nicht mehr kümmerte, aus dem Wagen schleuderte.
Wirklich, der kleine Gast paßte gerade in den großen Puppenwagen hinein. Ein so schönes Lager hatte er in seinem Leben noch nicht besessen. Er war so erstaunt über die weißen, spitzenbesetzten Kissen und die hellblaue Seidensteppdecke, daß es vor Bewunderung im Schreien innehielt.
Hans fuhr ihn jetzt hin und her. Vom Wohnzimmer ins Eßzimmer, vom Eßzimmer in die Kinderstube. Das ging schon eher als das Umhertragen und Wiegen, bei dem einen ganz schwindelig wurde.
Inzwischen überlegte Nesthäkchen eifrig, was sie »ihrem Kinde« wohl zum Essen vorsetzen könnte. Die Puppen hatten ihr das früher leichter gemacht. Die bekamen einfach Grasspinat und
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