Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
Leinenkleid wies noch das Andenken an den Hindenburgsieg aus, in Gestalt von rötlichen Himbeerflecken. Da mußte sie sich ja ihrer Unordentlickeit vor den Ostpreußenkindern schämen. Aber vielleicht das rosa Blümchenkleid? »Ach nee, nee, das hat meine Mutti noch selbst genäht, das gebe ich nicht fort!« sagte Nesthäkchen ganz laut zu sich selbst. Das weiß-blaugestreifte? Ja, das konnte sie ganz gut entbehren. Sie trug es zwar besonders gern, weil sie sich damit nicht so sehr in acht zu nehmen brauchte, da es nicht leicht schmutzte. Aber das brauchte sie wirklich nicht mehr. Auch nicht das weiße Matrosenkleid, das trug sie ja doch bloß Sonntags. Und die feinen Stickereikleider alle waren natürlich ganz unnötig. Damit mußte man sich bloß immer so eklig vorsehen, daß man sie nicht zerdrückte. Aber zu den Stickereikleidern gehörten auch die breiten Seidenschärpen. So wanderten auch Annemaries grünschottische, die mattrosa und die hellblaue Schärpe, die Fräulein in Seidenpapier sorglich aufhob, mit in den Puppenwagen. Sonst dachten die Ostpreußenkinder am Ende, sie besäße gar keine Schärpe.
Hüte und Mäntel brauchten die kleinen Flüchtlinge auch. Von ihrer geliebten Matrosenmütze mochte sich Nesthäkchen nicht trennen, die war so schön bequem, man konnte sie hinschleudern, wohin man wollte. Aber den schwarzen Lackhut, den gab sie leichten Herzens. Den weißen Florentiner mit dem Feldblumenkranz hätte sie eigentlich gern behalten, weil ihre Freundin Margot denselben hatte, und sie wie Zwillinge damit aussahen. Lieber gab sie das feine Spitzenhütchen von der Großmama, an dem man nicht mal zupfen und anfassen durfte.
Bei den Mänteln war die Auswahl nicht groß. Die Kieler Jacke mit den Goldknöpfen brauchte sie zwar selbst, aber - ach was, die frierenden Kinder brauchten sie gewiß notwendiger. Und die Sportjacke war ihr überhaupt schon zu klein. Es ging zwar auf den Herbst, wo es manchmal recht kühle Tage gab. Na, dann zog sie eben ihren Wintermantel an, damit würde sie auch nicht gleich verschwitzen.
Ach, du Himmel, beinahe hätte sie ja die Stiefel vergessen! Dann hätten die armen, kleinen Dinger barfuß laufen müssen. Ihre Sandalen liebte sie besonders, die wurden nicht verschenkt. Aber alle anderen, weiße, braune und schwarze Schuhe und Stiefel, flogen auf das zarte Spitzenhütchen, das man nicht mal anfassen durfte, und auf die mattblaue Schärpe, die Fräulein sorglich in Seidenpapier aufbewahrte.
Nun war der Puppenwagen vollgetürmt mit Nesthäkchens schönsten Sachen, auch daneben auf der Erde lagen noch verschiedene kleine Berge von Kleidungsstücken, die der Puppenwagen nicht mehr paßte. Noch einen befriedigten Blick warf das kleine Mädchen beim Schein der silbernen Vollmondlaterne aus sein Werk, dann kroch Nesthäkchen wieder ins Bett. Und mit seligem Lächeln war es nach wenigen Minuten entschlummert.
Allerdings, als Fräulein eine Stunde später das Kinderzimmer betrat, lächelte die nicht.
Barmherziger - was hatte die Krabbe denn bloß da angestellt?
Ihre besten Sachen hatte sie ja aus den Schränken herausgerissen. Die schön geplätteten Stickereikleider waren zusammengeknüllt unter den Stiefeln, und das Spitzenhütchen, das Großmama wie ihren Augapfel hütete, lag sogar auf der Erde.
Ärgerlich begann Fräulein in diesem Wirrwarr wieder Ordnung zu schaffen. Sie verstand gar nicht, was Annemarie damit bezweckt hatte, und hielt es nur für Ungezogenheit. Na, die wollte sie ihr morgen früh schon austreiben.
Aber als Fräulein jetzt all die Kinderwäsche entdeckte, schlug sie sich an die Stirn. Nein, daß sie auch nicht eher daran gedacht hatte. Natürlich für die Ostpreußenkinder hatte Annemarie das alles hervorgekramt. Da durfte sie gar nicht allzu sehr schelten. Wenn auch das unverständige, kleine Mädel die am wenigsten für arme Kinder geeigneten Sachen ausgewählt hatte - es war aus gutem, mitleidigem Herzen heraus geschehen.
Während Annemarie friedlich schlief und im Traum die kleinen Ostpreußenkinder mit ihren seinen Sonntagssachen froh herumstolzieren sah, wanderte ein Stück nach dem andern wieder in die Tiefen der weißen Schränke zurück. Der Mond aber lachte sich ins Fäustchen.
Am nächsten Morgen wurde Fräulein in oller Herrgottsfrühe durch angstvolles Geflüster geweckt:
»Fräulein, geliebtes Fräulein, wach‘ doch bloß auf,« klang es mit gedämpfter Stimme erregt aus Nesthäkchens Bett, »bei uns ist heut‘ nacht eingebrochen
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