Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
bunten Frühlingsblumen, die das Dichterdenkmal umkränzten. Sie versuchte durch das abschließende Eisengitter zu langen und sich einen Stengel Goldlack zu brechen. Ritsch - da hatte eine spitze Gitterzacke die voreilige Mädchenhand geritzt.
»Das ist des Sängers Fluch!« Lachend bereute Annemie ihr Vorhaben.
Als sie nun hinaustraten auf eine Wiese, übersät mit Anemonen und Tausendschönchen, da lehnte dicht neben Uhlands Standbild, ebenso unbeweglich, der Schäfer auf seinem Stab, derselbe, der den drei Studentinnen bei ihrem Einzug in Tübingen den ersten Willkommensgruß geboten hatte. Die blökenden Schafe und die übermütigen Böcklein wurden von dem Spitz mißtrauisch im Auge behalten.
»Das ischt der Vater Tobias, die bekannteschte Persönlichkeit Tübingens. Er pfuscht halt den größte medizinische Professore ins Handwerk. Wahre Wunderkure erzählt man sich dahier vom Tobias. Von weit und breit komme die reiche Bauern und hole den Schäfer, wenn eins, Mensch oder Vieh, krank ischt.« So berichtete der aus der Umgegend stammende Egerling.
»Wann's wollt, könnt's Kolleg beim Tobias belegen«, scherzte Neumann.
»Ja, vielleicht im Strümpfe stricken!« Annemarie wies übermütig auf den blauen Strumpf, den der Schäfer jetzt vorzog.
»Dazu seid's zu dumm, das trau' ich Ihnen nicht zu, Neschthäkche«, neckte Krabbe.
»Na, erlauben Sie gefälligst.« Annemaries Ehre war verletzt. »Ich habe mehr als einen Strumpf gestrickt.«
»Wer'sch glaubt!«
»Beweisen werde ich's!« Entschlossen trat Annemarie auf den alten Schäfer zu.
»Grüß' Gott, Vater Tobias, darf ich Euch ein bißchen beim Strumpf stricken helfen?«
»Was wollt's?« Mit seinen tiefliegenden Augen musterte der Alte das junge Ding.
Das stand stumm vor ihm. Alle Keckheit schwand Annemarie, als sie in das weise Gesicht blickte.
Jetzt schaute der Alte freundlicher. Er hatte in seinem langen Leben manchen lustigen Studentenstreich mit angeschaut und lächelte über die Kinderei der jungen Menschen.
»Wann'sch beliebt.« Er reichte dem jungen Mädchen das blaue Strickzeug.
Nicht triumphierend, sondern ängstlich, wie dereinst als kleines Nesthäkchen, nahm es Annemarie zwischen die feinen Finger. Behutsam begann sie, indem sie zwischen Anemonen und Tausendschönchen Platz nahm, Masche um Masche abzustricken.
»Knips« - machte Annemaries Foto-Apparat.
»Die erschte Aufnahme ,Fräulein Annemarie mit dem Strickstrumpf ischt hoffentlich gelunge.« Das war Krabbe.
»Solch eine Gemeinheit!« Jäh sprang Annemarie auf, und schleuderte das Strickzeug von sich.
»Aber Annemarie!« begütigte Marlene, hob das unschuldige Strickzeug auf, zog die herausgegangenen Nadeln wieder hinein und reichte es mit einer Entschuldigung dem alten Schäfer. Der nickte: »Schon guet- schon guet.« Dann stand er wieder unbeweglich, als sei er aus Stein gehauen, ebenso wie Uhlands Standbild.
Krabbe pirschte sich an Annemaries Seite, sie machte Riesenschritte.
»Schauen's doch nit so arg garschtig drein, Neschthäkche«, bat er.
»Ach was«, schimpfte Annemarie. »Das erste Bild, das ich aus meiner Studentenzeit nach Hause schicken wollte, sollte ein lustiges Studentenbild sein. Und jetzt sitze ich mit einem Strickstrumpf da, und noch dazu unter Schafen. Die Biester sind doch sicher auch mit auf das Bild gekommen.«
»Ganz g'wiß«, bestätigte Krabbe, »aber die Eltern werden's schon herauskenne.«
Da mußte Annemarie lachen. Ihr Zorn war verflogen.
»Frechdachs!« sagte sie nur noch, als wäre es Klaus.
»Also guet ischt', nun wisse mer gleich, wie mer zwei zueinand' stehe, Neschthäkche. Oder wollen's mich noch gar fordern?«
»Freilich, auf Pistolenduell!« scherzte Annemarie. Die Freundschaft war wiederhergestellt. Als Sühne forderte Annemarie nur, daß ihr Krabbe fürs Fotografieren noch einige Tips beibringen müsse. Das versprach dieser gern.
Neckaraufwärts, am Ufer entlang, ging es den Bergen entgegen. Unbeschwert und lustig wanderten die Studenten, Lieder singend, durch die herrlichen Wiesen.
Die drei Großstadtmädel kamen sich wie verzaubert vor. Und ein Jahr, ein ganzes Jahr sollte diese goldene Freiheit, dieses lustige Studentenleben währen.
Im Wirtsgärtle »Zu den Eichen« wurde Rast gemacht. Die Kathi brachte Moscht herbei. Mit Todesverachtung tranken die Berlinerinnen das ungewohnte Getränk und schnitten dazu Grimassen, als hätten sie jetzt schon Leibschmerzen.
Egerling klopfte ans Glas. »Kinderle«, begann er, »i möcht
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