Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
nächste Aufnahme war ein allerliebstes Bild. Ein weinumranktes Giebelhaus, auf dem Hausbänklein pfeiferauchend, wie das Urbild aller Gemächlichkeit, der Wirt in Hemdsärmeln, Frau Wirtin stand in der Haustür. Aus den Fenstern lugten Marlenes und Ilses neugierige Gesichter. Nesthäkchen selbst hockte auf den Steinstufen, auf dem Schoß Putzerli, innig umschlungen von Vronli und Kasperle. Selbst die Ziege und die Hühner, die auch zur Familie Kirchmäuser gehörten, fehlten nicht. Und ein Vers dazu:
»Hier in dem netten Häuslern, Bei unsern Kirchenmäuslein, Lebt sich 's in Saus und Braus - 's heißt das ,Dreimädelhaus'!«
»Na, fidel scheint die Gesellschaft ja dort zu sein«, schmunzelte der Vater und griff nach dem nächsten Kunstprodukt. Es war die Aufnahme »Fräulein Annemie unter den Schafen«.
»Elsbeth, das Mädel ist doch köstlich - sieh bloß, mit welch ehrgeizigem Gesicht es da sitzt und strickt. Als ob es die Hirtin der Schafherde wäre.«
Hanne betrachtete das Bild befriedigt: »Da tut se doch wenigstens ooch mal wat Jescheites an de Unversität. Strümpfe stricken is besser als studieren!«
Immer neue Bilder. Die Schwäbische Albkette tauchte vor den Blicken der Eltern auf. Auf einem Gipfel, untergeärmelt, mit lachenden Gesichtern eine Schar junger Menschen, Studentinnen und Studenten; Rucksack und Wanderstab zu Füßen.
»Bis auf den Hohenstaufe Sind heute wir gelaufe, Es grüscht mit Herz und Mund Der Schwäb 'sche Wanderbund.«
»Schwabenland, das so viele Dichter erzeugt hat, scheint auch unsere Lotte infiziert zu haben«, lachte Dr. Braun. »Einem Wanderbund ist sie auch beigetreten, die Krabbe. Na, ich gönn's ihr. Einmal ist man nur jung!« Die eigenen lustigen Studententage wurden in Dr. Braun lebendig.
»Ich freue mich von Herzen, daß unsere Lotte so herrliche neue Eindrücke in sich aufnimmt. So sehr sie uns auch fehlt, sie speichert Freude und Frohsinn für ihr ganzes Leben auf«, meinte die Mutter innig.
»Das ist bei unserer Lotte nicht nötig. Die wird noch als Großmutter mit weißem Haar ebenso übermütig sein wie jetzt. Sieh nur, was sie auf diesem Bild anstellt.«
»Neschthäkche auf der erschten Mensur« prangte als Überschrift. Den Degen in der Hand, ging Annemarie auf einen den Hieb parierenden Jüngling los.
»Die Krabbe wird doch nicht im Ernst Fechtstunden nehmen.« Dr. Braun betrachtete das Bild kopfschüttelnd.
»Eine Affenschande ist's, sich derart rauszustaffieren, und mit so'n Morddings seine Mitmenschen zu Leibe zu jehen. Kochlöffel und Quirl sollt' se lieber in de Hand nehmen!« machte Hanne ungeniert ihrem Unmut Luft.
Die Mutter lächelte. »Es ist ja nur ein Scherz. Ich kenne doch meine Lotte; und sollte ihr Übermut sie wirklich mal zu etwas Ungewöhnlichem hinreißen, ich habe so viel Vertrauen zu unserm Kinde, daß es stets die richtige Grenze einzuhalten wissen wird. Hier ist ja noch ein Bild, das letzte.«
Trümmerreste einer alten Burgruine. Vom Lueg ins Land ins Tal schauend, die drei Freundinnen. »Vier alte Ruinen« war das Bild betitelt.
Jetzt mußte auch die Mutter herzlich lachen. »Na, wenn die alten Ruinen nicht mehr als achtzehn, neunzehn Jahre zählen, sind sie wohl noch nicht allzu baufällig.«
»Hier, unsere Hanne gäbe schon eine etwas ehrwürdigere Ruine ab, was, Sie altes, treues Haus?« meinte der Arzt spaßend.
»Auf det alte Haus wartet leider de Küche«, meinte Hanne mit bedauerndem Blick auf Nesthäkchens Brief und eilte davon.
»Nun muß ich aber den Brief endlich lesen«, sagte Frau Braun und entfaltete die engbeschriebenen Bogen.
Ihr Mann erhob sich. »Ich werde mir die Lektüre für die Nachmittagsruhe aufsparen, denn jetzt habe ich auch keine Zeit mehr. Sonst versäume ich Sprechstunde und Klinik. Auf Wiedersehen, Elsbeth, ich lasse dich ja in bester Gesellschaft zurück.« Er nickte seiner Frau liebevoll zu und ging in die Praxis.
Auch Frau Braun stand vom Frühstückstisch auf. In das nebenan gelegene, jetzt verwaiste Reich ihrer Lotte trat sie. An dem kleinen Schreibtisch, der alle Examensnot Annemaries miterlebt hatte, ließ sie sich nieder. Hier war der richtige Ort, um mit ihrem Kind allein zu sein. Mit sehnsüchtigen Blicken las die Mutter.
Dreimädelhaus, den 25. Mai
Meine süße Mutti, geliebter Vater, teures Brüderlein, brummige Hanne, holdes Minchen
und innigstgeliebter Puck!
Der erste ausführliche Bericht soll heute steigen. Ich werde jeden Tag etwas daran schreiben. Also da
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