Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
wären wir im schönen Schwabenland. Ach Gott, man hat ja in unserem Steinkasten Berlin keine Ahnung davon, wie schön die Welt ist. Unsere neue Heimat Tübingen ist noch tausendmal schöner, als wir uns das in unseren Träumen ausgemalt haben. Die Stadt liegt am Berghang, unten fließt der Neckar, hoch oben auf dem Bergli das Schloß Hohentübingen. Ach, Muzi, Vater, ich bin Euch ja so dankbar, daß Ihr mir dies Tübinger Studienjahr geschenkt habt. Ich schreibe alles kunterbunt durcheinander, wie es mir in den Sinn kommt. Geradeso wie all die alten Giebelhäuser hier an dem Berg drüber und drunter in lustigem Durcheinander emporklettern. Ilse Hermann ist begeistert von all den Brünnle, Gäßle, Burgruinen und alten Mauern. Ich habe dafür weniger übrig. Land und Leute reizen mich mehr. Und die sind hier so lieb, oder vielmehr,,liab«, damit Ihr eine Kostprobe vom hiesigen Dialekt bekommt. Da sind zuerst unsere Wirtsleute, der Herr Nepomuk Kirchmäuser und seine Frau Veronika. Wir nennen sie natürlich Kirchenmäuse. Aber gar so ärmlich geht's bei ihnen nicht zu. Der Mann ist an der Bahn und hat sein gutes Auskommen. Auch für uns hungrige Studentlein fällt manch Bröcklein ab. Echt schwäbische Spätzli haben wir im Verein mit Frau Veronika fabriziert und verspeist. Überhaupt, die Frau Veronika ist eine tüchtige Wirtin, nächstens soll ich bei ihr Quarkknödel bereiten lernen. Sagt das bitte der Hanne zur Beruhigung. Vorläufig lassen mich die Mädel Marlene und Ilse nicht gern an die Küche heran, nachdem ich die ersten Spiegeleier so knusprig gebraten habe, daß sie mehr schwarz als weiß waren. Mir soll's recht sein. Am liebsten würde ich mich auch von der Haushaltswoche drücken, die jede abwechselnd übernehmen muß. Aber Marlene läßt nicht locker. Sie hat von mir den Spitznamen »Pensionstante« erhalten. Alle Tage revidiert sie wie ein Polizist mein Zimmer, ich werde sie nächstens wegen Hausfriedensbruch verklagen. Also, Mutti, Du kannst ganz unbesorgt sein wegen Deiner ungeratenen Tochter. Ich werde sicher als vollendetes Prachtexemplar in Eure Arme zurückkehren. Bis dahin ist's aber noch lange Zeit-Gott sei Dank! Bitte letzteres nicht etwa persönlich oder gar übelzunehmen.
Urfidel und gemütlich geht's in unserm Dreimädelhaus zu. Diesen Namen verdankt es unsern Schwaben und Wanderbrüdern, mit denen wir Freundschaft geschlossen haben. Unsere Schwaben sind so drollig, daß man sie gar nicht ernst nehmen kann. Besonders wenn sie reden. Das ischt zum Totlache. Ich stelle sie Euch im Bilde auf dem Hohenstaufen vor. Der kleine Schmächtige, das ist der Krabbe, ein urfideles Haus, von mir »Viehdoktor« genannt, weil er Tierarzt werden will. Aber er hört trotzdem beim Bergholz Kolleg, weil das besonders interessant ist. Der lange Semmelblonde ist mein Kollege Neumann. Öfters etwas elegisch angehaucht, dann wirkt er blödsinnig komisch mit seinen melancholischen Karpfenaugen, die mit seinem lustigen Dialekt in krassem Widerspruch stehen.
Der dritte unserer getreuen Vasallen ist Egerling. Er ist eines Dorfschulzen Sohn aus der Umgegend und wird »geischtlich«. Nun stelle ich Euch noch Ziegenhals und Steinbock vor, dann habt Ihr den Schwäbischen Wanderbund, der alle Samstag das Land unsicher macht, beieinand', wie man hier sagt. Ziegenhals, die kleine, kugelige, ist ein gutmütiger Kerl. Steinböcklein ist sehr intelligent, wie schon die Hornbrille beweist. Sie studiert alte Sprachen. Nun habe ich Euch mit der ganzen Gesellschaft, all meinen Tübinger Freunden bekannt gemacht. Ach nee - die Hauptsache fehlt ja noch: Vronli und Kaschperle, die kleinen Kirchenmäuse.
Gleichzeitig als Weckuhr patentiert. Jeden Morgen, Punkt sieben, erklingt vor meinem Fenster ein Duett: »Tanteli, hascht auschg'schlafe? Bischt nimmer müd?« Könnt Ihr Euch denken, wie mir Faulpelz, der daheim nicht aus den Federn finden konnte, dabei zumute ist? Aber hier ist's doch was anderes. Die Vögel bringen einem schon in aller Herrgottsfrühe ihr Ständchen, die Sonne scheint hier ganz anders als in Berlin und lockt hinaus ins Gärtle, wo alle Frühlingsblumen, die es nur gibt, bunt durcheinanderblühen. Am runden Tisch unter der Linde wird der Kakao von der, welche »die Woche« hat, serviert. Einmal habe ich ihn erst anbrennen lassen. - Dann geht's meist im Sturmschritt ins Kolleg. Am interessantesten finde ich Professor Bergholz, der gleichzeitig der diesjährige Rektor der Universität ist. Er spricht über Anatomie,
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