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Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest

Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest

Titel: Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Ury
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Nichte, eine zarte Blondine mit lieben Gesichtszügen, die ein rosengeschmücktes Sommerkleid trug, Annemaries Hand ergriffen. »Ach, ich kenn' Sie halt schon von Würzburg her.« Fräulein Ola machte ein verschmitztes Gesicht.
    »Das muß ein Irrtum sein. In Würzburg habe ich mich nur wider Willen einige Stunden aufgehalten und sicherlich nicht dort Ihre Bekanntschaft gemacht, Fräulein« Himmel, wie war der Nachname der jungen Dame?
    »Sagen Sie ruhig Ola - so werd' ich allgemein gerufen«, meinte diese freundlich, indem sie Annemaries Verlegenheit wahrnahm. »Nein, mich haben Sie dort freilich nit kennengelernt. Aber den da Rudi, wenn du deiner schönen Kusine genügend den Hof gemacht hast, darfst du hier eine Bekannte begrüßen«, rief sie lustig. Ein Biedermeierherr im kaffeebraunen Leibrock, der ihnen den Rücken kehrte, wandte sich lebhaft um.
    Ein schmales Antlitz, warmblickende graue Augen - da war es wieder, das Gesicht, das Annemarie sich so oft ins Gedächtnis zurückrief. Nach dem sie überall gespäht hatte.
    »Herr Hartenstein - ist das eine Überraschung!« Lebhaft streckte Annemarie ihm beide Hände entgegen.
    »Grüß Sie Gott, Fräulein Braun. Also da stecken's? Warum gaben Sie kein Lebenszeichen von sich? Warum haben's meine Schwester nit aufg'sucht? In jedem Brief hab' ich nach Ihnen ang'fragt, gelt, Ola?«
    »Das ist Ihre Schwester - Ola? Den Namen Hartenstein habe ich aber nirgends auffinden können«, berichtete Annemarie zutraulich.
    »Das glaub' ich, weil sie halt schon jahrelang im Haus meines Onkels lebt. Daß ich auch daran nit g'dacht hab'! Aber nun erzählen's, wie ist's Ihnen ergangen? Fühlen Sie sich wohl in Tübingen? Macht Ihnen das Studium Freud'?« Eine Frage jagte die andere, als gelte es, jede Minute der kostbaren Zeit auszunutzen. Es fiel Annemarie auf, wie angenehm sein Dialekt klang, im Gegensatz zu den Sch-Lauten ihrer schwäbischen Freunde, die stets ihre Heiterkeit herausforderten.
    »Na, und ob ich mich hier in Tübingen wohl fühle!« rief sie begeistert. »In einer urbehaglichen Bude hausen wir mit famosen Wirtschleut'. Und gute Freunde hab' ich auch schon. Ja, wo seid ihr denn?« Erst jetzt dachte Annemarie an ihre Getreuen, die sie während des freudigen Wiedersehens ganz vergessen hatte.
    Mit süßsaurem Gesicht standen Krabbe und Neumann da. Annemarie hatte ihnen doch noch nie etwas von dieser Bekanntschaft erzählt.
    »Also, da ist erstens mal der Viehdoktor, hört auf den Namen Krabbe«, stellte Annemarie vor. »Und dieser Biedermeieronkel hier ist unser Freund Neumann, ein ganz fideles Huhn, wenn er nicht gerade melancholisch oder beschwipst ist.
    Und das ist Rudolf Hartenstein aus Würzburg.«
    »Neugebackener Dr. med.«, vollendete Ola Hartenstein, die das Gespräch mit angehört hatte. »Hab's so recht g'macht, gelt, Rudi?«
    »Du kriegst deine Strafe, wart nur! Das böse Mädel hat nämlich auf all meine schriftlichen Anfragen behauptet, in Tübingen existier' keine Annemarie Braun.
    Meine letzte Hoffnung hab' ich heut auf das Rosenfest gesetzt, zu dem ich mich alljährlich im Hause meines Onkels einfind'. Sonst hätt' ich wirklich geglaubt, Sie hätten mir was weisg'macht. Zuzutrauen wär's Ihnen halt gewesen«, setzte er scherzend hinzu.
    Der Viehdoktor wurde ungeduldig. Er begann Annemarie an der Kleiderschleife nachdrücklich zu zupfen.
    »Kommscht nit bald, Neschthäkche?« flüsterte er mit ziemlich vernehmlicher Stimme.
    »Wie nennt der Herr Sie? Nesthäkchen? Sind Sie das Kleinste unter den Kameraden?« verwunderte sich der Biedermeierherr im kaffeebraunen Frack.
    »Der Name verfolgt mich nun mal zu meinen Ärger. Daheim hieß ich so, solange ich denken kann. Und jetzt haben sie den kindischen Namen hier auch aufgebracht«, beklagte sich Annemarie.
    »Ich find' ihn gar nit so arg«, lachte Dr. Hartenstein. »Im Gegenteil, ganz passend für die Trägerin.«
    »Na, erlauben Sie mal gefälligst!« Für kindisch wollte Annemarie nicht gelten.
    »Also kommscht oder kommscht nit?« Neumann wurde ungeduldig.
    »Bitte die Damen die Herren zum Kaffee zu engagieren. Bei uns regiert das schöne Geschlecht«, erklang die Stimme des Hausherrn. »Jede der Damen gebe dem Auserwählten eine Rose zum Zeichen seiner Ritterschaft.«
    Einen Augenblick zauderte Nesthäkchen. Der Viehdoktor machte ein erwartungsvolles Gesicht, Neumann setzte sich mit melancholischem Augenaufschlag in Positur. Da griff Annemarie nach der schönsten Rose, die sie an der Brust trug, und

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