Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
diesmal sein. Wer nicht in Biedermeiertracht erscheinen wollte, hatte ebenso im Anzug oder Sommerkleid Zutritt. Nur Rosenschmuck im Knopfloch oder Gürtel war Bedingung.
Die Kostümfrage beschäftigte nicht nur Annemarie, sondern auch Marlene und Ilse auf das lebhafteste. In uneigennütziger Weise suchten sie alles hervor, um »ihr Kleines« so schön wie möglich zu machen. Das gelang ihnen auch glänzend. Annemaries hellblaues Organdykleid mit den Rosenknöspchen wurde in ein Biedermeierkleid verwandelt. Aus Annemaries Haar formte Ilse Hängelocken.
Und als sie fix und fertig war, mit Seidenstrümpfen und weißen Spangenschuhen, die schönsten dunkelroten Rosen aus Frau Veronikas Garten vorgesteckt, mußte sie es ihrem Spiegelbilde zugestehen, daß es gar nicht so übel als Biedermeierfräulein ausschaute.
Die Freundinnen waren neidlos entzückt. Die Freunde Krabbe und Neumann, die sie nachmittags abholen kamen, waren begeistert.
»Neschthäkche ischt heut zum Anbeiße!« machte der Viehdoktor seiner Begeisterung Luft. Neumann bekam wieder mal melancholische Anwandlungen, was das übermütige Biedermeiermädchen veranlaßte, ihn nur noch mehr aufzuziehen als sonst. Er sah im giftgrünen Frack und mausgrauen Zylinder zu seinem Sommersprossengesicht in der Tat herausfordernd komisch aus. Krabbe trug seinen Touristenanzug, rosengeschmückt. In seiner Kasse herrschte wieder mal, wie meistens, Ebbe. Ein Kostüm war für ihn unerschwingbar.
Egerling, Marlene und Ilse, die Nichtgeladenen, verabredeten, als Zaungäste vom Neckar aus dem Feste beizuwohnen. Sie wollten sich ein Boot mieten und den »Rummel« vom Wasser aus mit anschauen.
»Küche muscht ihr uns herüberwerfe«, verlangte Egerling. »Die Kräpfle beim Bergholz sind noch berühmter als sein anatomisches Kolleg. Und auf unser Nesthäkche könne wir dann auch gleich ein Auge habe, daß es keine Dummheite nit macht und nit über die Stränge schlage tut«, meinte er mit väterlicher Miene.
»Dafür wolle wir halt schon sorge!« Krabbe und Neumann fühlten sich als Annemaries Ritter in ihrer Ehre gekränkt.
»Ja, Kinder, sagt mal, seid ihr denn alle zusammen ganz und gar hops?« begehrte das Biedermeierfräulein auf. »Ich werde euch zu Hause lassen, wenn ihr einen solch großen Mund habt. Ich glaube, meine Aufsicht wird notwendiger sein, damit ihr der Erdbeerbowle nicht zu sehr zusprecht.« Lachend schritt sie davon.
Im Gärtle bildeten samtliche Kirchenmäuse Spalier, um ihr »Fräuli« gebührend zu bewundern.
»Lueg, Kaschperle, wie'sch Tanteli heut schmuck ausschaue tut!« Vronli war eitel Bewunderung.
»Ich bring' euch was Süßes mit«, versprach Annemarie ihren kleinen Freunden.
Danach konnte man sich endlich auf den Weg machen.
An der Ecke der Parkstraße trennte man sich von den Freunden. »Benimm dir, mein Söhnchen!« Mit diesem wohlgemeinten Ratschlag in echtem Berliner Dialekt wurde Annemarie von Ilse entlassen.
»Mach uns keine Schande, Annemarie«, fügte Marlene noch hinzu.
»Wunderbar - heute bin ich meine Pensionstante los!« Grüßen, Nicken und Winken hin und her, als gelte es einen Abschied auf ewig. Dann verschwand das goldhaarige Biedermeierfräulein in dem Bergholzschen Landhaus am Neckar.
Die Gesellschaft war schon ziemlich vollzählig. Wo Annemarie dabei war, kam man nie zu früh. Professor Bergholz empfing seine jungen Gäste im Gartensaal, der mit bunten Papierballons und frischen Rosen, in allen Farben leuchtend, festlich geschmückt war. Ein munteres Völkchen von Anno dazumal erging sich bereits in den verschnörkelten Gartenwegen. Rosen, wohin man schaute. Junge, fröhliche Gesichter überall.
»Grüß Gott, Fräulein Biedermeier, ich freue mich, das Vergnügen in meinem Hause zu haben und Sie auch mit meinen Damen bekannt machen zu können«, begrüßte Professor Bergholz Annemarie, deren Liebreiz ihm bereits im Hörsaal aufgefallen war. Annemarie versank in einer tiefen Verbeugung aus Großmutters Zeiten.
»Anneli - Ola - wo steckt ihr denn? Ich will euch mit einer meiner Studentinnen bekannt machen«, rief er. »Fräulein Braun, Herr Krabbe, Herr Neumann – meine Tochter Annelise - meine Nichte Ola.« Eine entzückende lila Biedermeierdame mit dunklem Haar und großen blauen Augen begrüßte die fremden Gäste herzlich. »Grüß Gott, ich hoff, daß Sie sich in unserm Hause wohl fühle werde!«
Das war Annelise Bergholz, für die alle Studenten Tübingens schwärmten.
Inzwischen hatte die mit Ola angeredete
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