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Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest

Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest

Titel: Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Ury
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Tübingen zu herrschen pflegte. Der Viehdoktor hatte zuerst, als Annemarie auch seinen Arm zu packen bekam, wütend geknurrt: »Laß los, zum Lückebüßer bin i halt zu guet.« Aber dann hatte er sich doch dazu herabgelassen, an ihrem Tisch Platz zu nehmen. Dem Neumann das Nesthäkchen allein zu überlassen, ja, das war' so was! Damit der sich ins Fäustchen lachte.
    Aber bestraft mußte Annemarie werden. Krabbe maulte. Keinen einzigen Witz machte er heute, was ihm gar nicht leichtfiel. Er beschränkte sich darauf, ein Kräpfle nach dem anderen zu vertilgen, was ihm schon weniger schwer wurde.
    Um so mehr redete Neumann, ohne Punkt und ohne Komma. Wie ein aufgezogener Wasserfall ergossen sich die Schleusen seiner Beredsamkeit über seine blonde Nachbarin. Er merkte gar nicht, wie stumm und einsilbig diese neben ihm saß.
    Daß sie allenfalls mal ein höfliches Lächeln, ein Kopfnicken oder auch wohl ein geistesabwesendes »O ja« auf seine Redeflut hatte, daß sie die Eisschokolade kaum berührte und an den guten Kräpfle würgte, als seien sie zäh und ledern wie eine Kriegssemmel.
    Der Viehdoktor beobachtete diese ungewöhnliche Schweigsamkeit Annemaries ungefähr so, wie er galvanische Zuckungen an einem Frosch experimentierte. Aha - also machte es doch Eindruck auf sie, daß er sie so links liegenließ. Ein wenig zappeln lassen mußte er Nesthäkchen noch, wenn es ihm auch leid tat, daß sie sich seinen Zorn so zu Herzen nahm. Strafe muß sein! Und um so netter war sie nachher dann zu ihm.
    Das blonde Biedermeierfräulein, das so manchen bewundernden Blick der jungen Studenten auf sich zog, merkte nichts von dem Strafgericht des Viehdoktors. Es sah nicht das entzückende Bild, das all die Biedermeierdamen und -herren, all die rosengeschmückten jungen Menschen in ihrer heiteren und ausgelassenen Stimmung boten. Annemarie, die sonst ein offenes Auge für alle Naturschönheiten hatte, merkte nicht einmal, daß der Bergholzsche Garten dem Stil des Festes getreulich entsprach. Daß er selbst ein Überbleibsel aus Großvaters Zeiten mit seinen buchsbaumeingerahmten Wegen, den großen Blumenbeeten und den vielen verschwiegenen Lauben und Plätzchen zu sein schien. Ja, was hatte denn Nesthäkchen eigentlich, das sonst so übersprudelnd vor Ausgelassenheit war, das mit seinem hellen Lachen eine ganze Gesellschaft anstecken konnte? Durch die Rosenzweige schimmerte es kaffeebraun und lila. Dort drüben saß Rudolf Hartenstein neben seiner Kusine, die das schönste Mädchen in Tübingen sein sollte. Sie hatten recht, ganz entzückend war Annelise Bergholz mit ihrem Madonnenscheitel und den tiefblauen Augen. Annemarie konnte es eigentlich Rudolf Hartenstein gar nicht verdenken, daß er die reizende Kusine ihr vorgezogen hatte.
    Recht vergnügt schien es dort drüben an dem Tisch zuzugehen. Konfettischlangen flogen hin und her. Jetzt befestigte der kaffeebraune Leibrock dem lila Biedermeierdämchen gar eine Rose in dem dunklen Haar. War es etwa die, welche sie ihm geschenkt hatte?
    Annemarie gab sich einen Ruck. Sie riß all ihren Stolz zusammen. Pah, das wäre ja noch besser, wenn sie sich das schöne Fest durch irgendeinen verderben würde, der gar nicht mehr zu wissen schien, daß sie überhaupt da war. Nun gerade lustig sein, nun gerade!
    »Krabbe, sitz nicht da wie ne olle Tante. Schaust aus, als ob du statt Eisschokolade Rhizinus schlucken mußt. Neumann, Menschenskind, hör auf mit deinem Gequassel. Das geht ja wie'n Wasserfall! Da- das ist die Strafe, daß ihr so unausstehlich seid!« Ein bunter Regen von Papierschnitzeln ergoß sich plötzlich über die beiden. Das war wieder Doktor Brauns lustiges Nesthäkchen, das mit lachenden Augen in die Konfettischlacht eingriff. Die Studenten aus der Laube nebenan beteiligten sich an den Wurfgeschossen. Der Tisch des goldhaarigen Biedermeierfräuleins wurde im Nu der Mittelpunkt der hin und her geschleuderten Scherzworte und zerplatzenden Seidenpapierbälle.
    Da gerade lugte Rudolf Hartenstein herüber. Ei, das blonde Mädel schien sich ja seine unbeabsichtigte Kränkung nicht weiter zu Herzen zu nehmen.
    An Annemaries Tisch hatte sich jetzt Ola niedergelassen, um auch an der übersprudelnden Lustigkeit in dieser Ecke teilzuhaben. Rudolf ertappte sich dabei, daß er der Schwester den Platz nicht gönnte. Annelise mußte ihn zweimal anstoßen, ehe er recht begriffen hatte, daß jetzt das Menuett aus Urgroßvaters Tagen mit den Gesangversen steigen sollte, bei denen das

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