Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
war geplant. Dort wollte Annemarie Braun die Eltern treffen, um dann gemeinsam mit ihnen einige Wochen in der unweit gelegenen Sommerfrische Blaubeuren zu verbringen. Marlene und Ilse dagegen sollten sich von Ulm aus in den Schwarzwald schlagen, wo Familie Ulrich Erholung suchte.
Für die drei fehlenden Mitglieder hatte der-Schwäbische Wanderbund Ersatz bekommen. Da war zuerst Bruder Hans, der eines Tages mit Lodenjoppe und Rucksack seinen Einzug in Tübingens alte Giebelstraßen hielt, um selbst mal nachzuschauen, ob Nesthäkchen auch nicht zuviel Unfug dort trieb.
Freudigst war er von der fidelen Gesellschaft begrüßt worden. Weniger freudig betrachtete man die Beteiligung von Rudolf Hartenstein und seiner Schwester, wenigstens von Seiten Krabbes und Neumanns.
So sah die unternehmungslustige Gesellschaft aus, die an einem sonnigen Augustmorgen aus Tübingens Mauern seelenvergnügt hinauszog. Vronli und Kaschperle gaben ihnen das Geleit bis zum Bahnhof und sahen neidvoll dem pfeifenden Zügle nach, welches das Tanteli entführte.
»Wohin geht's zuerst, Herr Reisemarschall?« erkundigte sich Hans Braun bei Hartenstein.
»Nach Reutlingen. Das alte Städtchen mit seinen grauen Stadtmauern und Wehrgangen, den mittelalterlichen Toren und Türmen, den Brünnle und Gäßle, bietet ebensoviele künstlerische wie historische Sehenswürdigkeiten. In Reutlingen ist noch alles ursprünglich und unberührt wie vor fünfhundert Jahren. Nichts ist auf den Fremdenverkehr zugeschnitten. Es lohnt sich, dort einen Tag zu verbringen.«
»I kann halt nix Besonderes nit in Reutlinge finde«, meinte Krabbe, nur um zu widersprechen. Er fühlte sich durch Dr. Hartenstein, der ihm ohnedies noch vom Rosenfest her nicht so recht grün war, in seinen Führerrechten gekränkt. Bisher war er es stets gewesen, der die Sonntagsfahrten zusammengestellt hatte.
»Reutlinge - Pfullinge - da ischt das Bier halt guet, da müsse Studentle bleibe«, gab Neumann mit schwärmerischem Augenaufschlag seine Meinung kund.
»Ja, kneipe und schlafe, das ischt für dich, Faultier, halt das Beschte«, zog ihn Annemarie, seine Sprache getreu nachahmend, auf.
Hans vergnügte sich köstlich. Ein Tausendsassa das Nesthäkchen, wie es mit den beiden Schwaben umsprang.
Zu Rudolf Hartenstein war Nesthäkchens Ton ein ganz anderer. Auch mit ihm war sie gut Freund. Dem ersten Spaziergang über Berg und Tal war noch so manch einer gefolgt. Auch zwischen ihnen gab es oft Neckereien und scherzhafte Wortgefechte. Und trotzdem, es fiel dem Bruder auf, daß in Nesthäkchens Art, wenn es auch noch so keck auftrat, stets eine kaum merkbare Scheu mitklang. Für Fremde gar nicht bemerkbar, nur für ihn, den großen Bruder, der die Annemarie von klein auf in all ihren Regungen kannte.
Im Gänsemarsch ging es durch Reutlingen, durch das Tübinger und durch das Gartentor. Der wundervolle gotische Lindenbrunnen mit seiner kunstvollen Steinmetzarbeit erregte allgemeine Begeisterung. Ilse Hermann war wieder mal total »hops«, wie Annemarie ihren Kunstenthusiasmus benannte. Marlene schwelgte in historischen Erinnerungen, und Annemarie, die dritte der Grazien im Dirndlkleid, suchte nach dem malerischsten Stadtwinkel. Überall machte sie Aufnahmen, um für später eine Erinnerung an das schwäbische Studienjahr zu haben. Auch Rudolf Hartenstein trug seinen Fotoapparat an der Seite umgeschnallt. Aber er war weniger »gemeingefährlich« als Nesthäkchen. Er konnte an einem schönen Plätzchen auch Freude haben, ohne gleich zu überlegen, wie es wohl am besten in den schwarzen Kasten hineinzuzaubern sei.
Auf Schritt und Tritt malerische Bilder vergangener Jahrhunderte. Sollte Annemarie die alte Stadtmauer mit dem Storchturm in ihren Apparat sperren, oder war der alte Wehrgang am Zeughaus mit seinen Schießscharten und Steintreppen nicht noch malerischer? Eine Abstimmung entschied über diese wichtige Frage. Die Mehrheit war für Stadtmauer und Storchturm.
Annemarie entledigte sich ihrer Bürde. Der Rucksack war umfangreich und schwer. Das lag daran, daß sie schneeweißes Mehl in Tübingen erstanden hatte, zehn Pfund. So zart und weiß, wie man's in Berlin nicht bekam. Das mußte sie unbedingt der Mutter mitbringen. Hans hatte protestiert. Die Freundinnen hatten sie ausgelacht. Rudolf Hartenstein wollte ihr das schwere Gepäck abnehmen.
Alles vergebens. Nur ihr Akkordeon durfte er zeitweilig übernehmen.
»Das Mehl schleppe ich selber, einen anderen mag ich nicht zu meinem
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