Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
Schiffbruch gab, Frau Veronika vermochte Annemarie jetzt doch schon wohlwollend die Anerkennung zu zollen: »Sie sein gar nit so arg dumm, wie i denkt hab'.«
Heute galt es den Einkauf zu besorgen. Es war Wochenmarkt. Die Bauernfrauen kamen mit Pferd und Wagen in die Stadt kutschiert. Oder sie trugen, wie es hier Landesbrauch war, den Käfig mit gackernden Hühnern auf dem Kopf.
Den buntgeflochtenen Marktkorb von Frau Veronika an dem einen Arm, am andern Vronli, das Kaschperle hinter sich herzog, machte sich Nesthäkchen auf den Weg. Für die Kinder war es die größte Freude, das Tanteli beim Einkauf zu begleiten.
Der Marktplatz bot ein malerisches Bild. Unter roten und grauen Regenschirmen von gewaltigen Dimensionen hielten die Bauersfrauen, meistens in Tracht, ihre Waren feil. Der steinerne Neptun schaute von seinem Brünnli auf das Gewühl herab. Allzu voll war es nicht mehr. Die Bewohner hatten bereits ihre Einkäufe am Vormittag erledigt.
Zuerst mußten Vronli und Kaschperle befriedigt werden. Denn die Begleitung des Tanteli war nicht der hauptsächlich verlockende Gedanke. Was für die Leckermäulchen beim Einkauf abfiel, war von wichtigerer Bedeutung. Also erst eine große Tüte mit Kirschen erstanden. Selig nahmen sie Vronli und Kaschperle in Empfang.
»Nachher darf der Kaschperle die Kirschle auch trage, gelt, Tanteli?« bat der Kleine.
Annemarie nickte freundlich.
»'s ischt noch zu arg klein, das Büble, dasch geht nit«, spielte sich Vronli als große Schwester auf.
Annemarie maß der Debatte keine weitere Bedeutung zu. Sie hatte wichtige Überlegungen. Sollte sie zu heute abend Schmarren mit geschmorten Stachelbeeren vorbereiten, wie man es mittags mit den Freundinnen verabredet hatte? Es gab lebende Fische auf dem Markt - »arg guet seins'«, pries die Verkäuferin sie an. Freilich, die Vor- und Zubereitung der Fische war Annemarie ein Buch mit sieben Siegeln. Aber wozu gab's denn eine Frau Veronika? Wie würden die Freundinnen staunen, wenn sie ihnen so ein besonders gutes Mahl auftischte.
Die Fische wurden erstanden. Auch Stachelbeeren, Eier, Butter und Tomaten wanderten in den Korb.
»So, Kinder, nun können wir heim!« Stolz wandte Annemarie sich nach ihren kleinen Trabanten um. Ja, wo waren denn die? Ihr Blick überflog die Reihen mit farbenfreudigen Obst- und Gemüseständen.
Kein Vronli, kein Kaschperle. Aber dort am Neptunsbrünnle, wo die Fischstände waren, erklang eine schreiende Kinderstimme. Die mußte zum Kaschperle gehören.
»Vronli, Kaschperle, was ist denn?« Annemarie beschleunigte ihren Schritt. Sie dachte, es sei den Kindern etwas zugestoßen.
»Gibscht oder gibscht nit, du garscht'ges Ding du!« Mit beiden Fäusten ging der kleine Wüterich auf die Schwester zu, die lachend die Tüte mit Kirschen hoch über ihrem Kopf hielt.
»Grein doch nit so, Büble, 'seh Mädle wird di scho' Kirschle gebe«, begütigte eine dicke Marktfrau den schreienden Buben.
Aber »'sch Mädle« dachte gar nicht daran.
»Arg wüscht bischt, lueg, da kommt'sch Tanteli«, versuchte es den Kleinen von der Tüte abzulenken.
Der aber wollte nicht das Tanteli, sondern die Kirschen. Ein erneuter Ansturm, diesmal auch noch von nagelbeschlagenen Stiefeln unterstützt, erfolgte. Annemarie, die sich vergeblich bemühte, die kleinen Kampfhähne zu trennen, geriet mitten in das Kriegsgewühl.
»Schämst du dich denn gar nicht, Kaschperle, so unartig zu sein - Vronli, ich nehme euch nie wieder mit zum Einkaufen -«
Annemaries Stimme verhallte unter Kaschperles Gebrüll.
Das junge Mädchen hob den Arm, um Vronli die Kirschen zu entreißen. Ein Stoß, ein wütender, von Kaschperles kräftigen kleinen Armen, da flog der bunte Marktkorb mitten hinein in das Steinbassin des Neptunbrünnle. Die Fischlein, die das Heimatselement fühlten, begannen sich sofort aus dem Papier zu entwinden und lustig in dem klaren Wasser umherzuschwimmen. Die Butter und Tomaten schwammen hinterdrein. Dazwischen segelte Frau Veronikas Marktkorb. Die Stachelbeeren waren nach allen Himmelsrichtungen entsprungen. Ach, und die Eier - die Eier waren das Allerschlimmste! An Annemaries weißem Leinenrock sickerte es goldgelb herab, in Kaschperles Kraushaar leuchtete es golden, und Vronlis Schürzlein hatte auch seinen Teil abbekommen.
Die klebrigen Hände weit von sich spreizend, stand Nesthäkchen »versteinert«, wie der Neptun droben, mitten auf dem Tübinger Marktplatz.
»Fangen's doch d' Fischle wieder- Kinderle, geht's daher,
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