Nesthäkchen 07 - Nesthäkchen und ihre Küken
hörte sie, was Frau Braun zu ihr sprach. Mit dem andern lauschte sie auf das Gespräch der Nachfolgenden. Was ihn nach Berlin geführt habe, hatte sich Marlene erkundigt. Und er hatte ihr eingehend über seine Gutskaufabsichten berichtet.
»Eine Frau brauche ich dann auch notwendig, eine tüchtige Hausfrau ... vielleicht kannst du mir dazu verhelfen, Marlene.«
Ilses Mutter rief aber bereits zum zweiten Mal durch die Tür: »Ilse, es ist höchste Zeit, du kommst zu spät, Kind.«
Mit einem Satz war Ilse aus dem Bett. Ja, was fiel ihr denn ein, hier zu liegen, über dumme Sachen nachzugrübeln und ihre Pflichten darüber zu vernachlässigen? Die zweite Klasse wartete auf Rückgabe der englischen Klassenarbeit. Ihr Zimmer konnte sie heute nicht mehr vor der Schule aufräumen, wie sie es sonst zu tun pflegte. Sie schämte sich vor der Mutter, daß sie so spät auf der Bildfläche erschien. »Morgen, Muttchen, tüchtig verschlafen! Ich werde mein Zimmer aufräumen, wenn ich mittags nach Hause komme.« Sie goß eiligst den Kaffee, der bereits eingeschenkt stand, hinunter. Zeit für die Stulle war nicht mehr. Die wanderte mit hinein in die große, schwarze Ledermappe.
»Gewiß ist es gestern abend spät geworden, Ilschen. Das beste Zeichen dafür, daß es wieder so hübsch bei Hartensteins war wie stets«, meinte die Mutter liebevoll, als sie das Frühstücksbrot einwickelte. Ein Schatten flog über Ilses offenes Gesicht. »Du erzählst uns heute mittag ausführlich. Jetzt lauf, mein Kind.« Die gute Mutter half der Eiligen noch in den Mantel.
»Muttchen, sei nur nicht böse, daß ich dir die ganze Arbeit überlasse ...« Ilse hatte keine Zeit mehr, die beruhigende Antwort abzuwarten; sie war bereits aus der Tür.
Drüben, an der Ecke des Polizeipräsidiums, traf sie jeden Morgen Marlene, die fünf Minuten von ihr entfernt wohnte. Sie machten wie in Kindheitstagen den Schulweg stets gemeinsam. Hatten die beiden Unzertrennlichen es doch durchgesetzt, endlich an demselben Mädchenlyzeum angestellt zu werden.
Heute war kein graues Kostüm weit und breit zu erblicken. Ilse empfand es als Erleichterung, daß Marlene nicht auf sie gewartet hatte. Es war das erste Mal in den zwei Jahren, in denen sie an derselben Anstalt unterrichteten, daß sie getrennt den Weg zurücklegten.
Die Rathausuhr an dem viereckigen roten Turm zeigte bereits zehn Minuten vor acht. Sie hatte gut noch fünfzehn Minuten bis dahin. Wenn sie Glück hatte, würde sie es noch bis zum Schulanfang schaffen. Ilse jagte die Königstraße entlang. Der Hut auf den Haaren rutschte schief. Nur weiter. Sie rempelte am Schloßplatz einen Herrn an. »Entschuldigen Sie«, stieß sie, ohne aufzusehen, hervor und wollte weiter. Aber sie wurde am Mantelknopf festgehalten.
»Ilse!« rief der Herr erfreut. »Wenn du beim nächsten Rennen in Hoppegarten mitläufst, setze ich auf dich.«
Ilse hemmte jäh den Schritt und blickte entsetzt in Klaus Brauns gerötetes Gesicht. Wie kam der denn in aller Herrgottsfrühe schon in die Stadt? Er wohnte doch bei seinen Eltern in Charlottenburg.
»Menschenskind, du jagst ja wie ein schwindsüchtiger Droschkengaul. Blödsinn, sich so die Puste 'raszulaufen. Peter Frenssen wartet schon seit halb acht auf mich am Alexanderplatz. Wir wollen heute vormittag die Ausstellung für landwirtschaftliche Maschinen besuchen und mit dem Mittagszug an die Waterkant fahren. Ich habe soeben Marlene Ulrich, der ich an der Börse begegnete, bis zur Schule begleitet. Wie kommt es denn, daß die siamesischen Zwillinge heute jeder solo ...« Klaus war plötzlich auch solo. Mit verdutztem Gesicht sah er der davoneilenden Ilse nach.
Zum Kuckuck noch mal! Dazu war er eine halbe Stunde früher aufgestanden, war vorzeitig ausgestiegen, um die Ilse auf dem Schulweg abzufangen und wieder gut zu machen? Denn er hatte es bereut, daß er es gestern so arg mit ihr getrieben hatte. Man sah sich doch jetzt wieder monatelang nicht, na ja! Und wenn man dann wieder einsam auf seinem Hof saß, ja, dann dachte man in den stillen Wintermonaten ganz gern mal an ein blondes Mädel. Nicht einmal eine Hand hatte sie ihm zum Abschied gegeben. Kein Wort hatte sie geredet.
Ilse hörte das Läuten der Schulglocke bereits, als sie noch jenseits der Spree war. Doch zu spät! Daran war nur Klaus schuld, der ihr die kostbaren Minuten geraubt hatte. Also Marlene hatte er zur Schule begleitet! Und sie selbst kam dadurch zu spät! Es war lange her, daß Ilse in der Schule zu spät
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