Nesthäkchen 07 - Nesthäkchen und ihre Küken
heute gegen sie selbst. Wie reimte sich das zusammen?
Ein Uhr. In Scharen strömte es aus dem roten Backsteingebäude an der Spree. Die letzte Schulstunde - morgen gab es Zensuren - Ferien ... die ganze Seligkeit der winkenden zehntägigen Freiheit lag auf all den jungen Gesichtern. Aber auch die Lehrer und Lehrerinnen blickten heute hell und vergnügt in den Oktobersonnenschein. Sogar das Gesicht von Fräulein Meerrettich sah aus, als sei der Meerrettich mit Zucker, anstatt mit Essig angerichtet.
Unter der Schulhofskastanie, die mit welken Blätterfingern in das sonnige Goldgespinst griff, schritt Marlene auf und nieder. Ilse ließ heute lange auf sich warten. Da kam sie endlich. Ihre Trabanten zu beiden Seiten und so flankiert von ihren jugendlichen Verehrerinnen, daß man gar nicht an sie heran konnte. Marlene mit ihrer energischen Art machte kurzen Prozeß. »Kinder, ihr geht wohl jetzt voran, ich habe mit Fräulein Hermann zu sprechen.«
Enttäuschte Blicke antworteten. Heute, wo die Unzertrennlichen mal ausnahmsweise nicht miteinander die Treppe heruntergekommen waren, hatte man gehofft, mit der kleinen Hermann ein Stück Weges zusammengehen zu können. Da verdarb einem die Ulrich das wieder - so 'n Bosheit!
Nun hätte sich Ilse heute ganz gern hinter ihrer jungen Schar verschanzt. Sie scheute das Alleinsein mit Marlene. Aber den neugierigen Backfischaugen durfte man kein Schauspiel geben. So winkte sie ihnen nur noch einen freundlichen Abschiedsgruß zu und schritt mit Marlene davon.
»Also schieß los!« sagte Marlene, nachdem man geraume Zeit in stummem Nebeneinander dahingegangen war. Sowie man aus dem großen eisernen Tor heraus war, hatte man alle Lehrerinnenwürde zurückgelassen. Dann sprach man wieder, wie einem der Schnabel gewachsen war. »Womit denn?« Ilse tat völlig ahnungslos.
»Also tu nur nicht so. Ich will wissen, was dir in die Krone gefahren ist. Unmöglich kannst du doch so verknurrt sein, weil du verschlafen hast, und ich nicht auch noch zu spät kommen wollte.«
»Du wirst wohl wissen, warum du nicht auf mich gewartet hast. Ein Dritter stört natürlich ...« Als es 'raus war, hätte Ilse das Wort gern zurückgenommen. Denn Marlene sah sie so entgeistert an, daß Ilse sich plötzlich unglaublich dumm vorkam. »Jetzt muß ich dich aber dringend ersuchen, Ilse, nicht in Hieroglyphen zu sprechen, sondern dich klar auszudrücken.« Marlene setzte ihr strenges Lehrerinnengesicht auf. Das reizte Ilse.
»Ja, willst du es vielleicht leugnen, daß du dich heute morgen mit Klaus Braun getroffen hast, und daß er dich bis zur Schule begleitet hat?« stieß sie hervor, während eine Blutwelle ihr zu Kopfe stieg.
»Leugnen ... du bist ja dumm, Ilse. Was sollte ich daran leugnen, daß ich Klaus zufälligerweise traf. Du scheinst ihn ja auch gesprochen zu haben.« Marlenes Stimme klang ruhig, Ilses aber sehr erregt. »Zufälligerweise!«
»Ilse«, jetzt stieg auch Marlene das Blut in das blasse Gesicht, »ich muß dich doch bitten, etwas mehr auf deine Worte zu achten und nichts zu reden, was du nicht verantworten kannst.«
»Ich bin kein Schulkind, das sich von dir abkanzeln läßt. Was ich sage, kann ich auch vertreten. Du hast dich gestern bei Hartensteins mit Klaus für heute morgen verabredet und warst froh, daß ich dir den Gefallen tat, nicht pünktlich zu sein. Ich durchschaue euch beide. Aber von dir hätte ich das nicht gedacht, daß du mich derart hintergehen könntest!« Alle Bitterkeit, die Ilse seit gestern in sich angetürmt hatte, lag in diesen Worten.
Jetzt lachte Marlene. Aber nicht höhnisch, wie Ilse soeben, sondern frei von Herzen. »Ilse ... Ilsenkind ... du hast ja ein Piepvögelchen! Aber sag' keinem weiter. Soll ich dir mal sagen, was dir fehlt? Eifersüchtig bist du ... hahaha ... eifersüchtig auf mich und Klaus.« Wieder lachte Marlene, wie von einem Alp befreit.
»Das ... das ist eine Gemeinheit, mir etwas Derartiges zu sagen!« Je mehr Ilse empfand, daß die Freundin den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, um so empörter war sie. Ehe Marlene sie zurückhalten konnte, hatte sie den Damm überquert und ging auf der andern Seite, so schnell sie nur konnte.
Nachlaufen werde ich ihr nicht, dachte Marlene nun auch ärgerlich. Getrennt schritten die beiden Unzertrennlichen, eine hüben, eine drüben, heute heimwärts.
Ein neues Semester
Die Oktoberferien hatten nicht gehalten, was sie versprochen hatten. So sonnenhell und sonnenwarm sie sich angelassen
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