Nesthäkchen 07 - Nesthäkchen und ihre Küken
gekommen war. Ein kleines Ding in der sechsten Klasse war sie damals gewesen.
Aber sie hatte heute genau dasselbe beklemmende Gefühl, als sie die wie ausgestorben daliegenden Korridore durchschritt, wie damals in ihrer Kinderzeit. Eine gleichfalls verspätete Schülerin rannte an ihr vorüber, knickste ängstlich vor der Lehrerin, einer Vermahnung gewärtig, und lief erleichtert weiter. Ilse mußte lächeln. Das Kind fürchtete ihr Strafgericht, und dabei hatte sie selbst sicher ein noch viel schlechteres Gewissen. Sie hatte doch heute keinem mehr Rechenschaft zu geben, wenn sie mal zu spät kam, nur sich selbst. Und doch war es ihr peinlicher als einst.
Lautes Toben, Lachen und Schreien schallte ihr aus der zweiten Klasse entgegen. Die Mädel benutzten die unvermutete Freiheit, um sich gründlich auszutoben.
»Die kleine Hermann ist bestimmt krank! Ihr Gegenstück, die Ulrich, habe ich vorhin schon gesehen ...«
»Nein, Fräulein Hermann ist nicht krank, Trude Weidner, sondern verlangt augenblicklich Ruhe!« klang es plötzlich in den Tumult hinein.
Ha - wie flog da alles auf die Plätze. Ängstliche Augen hingen an Ilses Gesicht. Sah es sehr böse aus? Würde es Tadel setzen?
Ach, Ilse fand, daß sie selbst viel eher einen Tadel verdient hätte. Zur allgemeinen Erleichterung zog sie gleich das Paket Hefte aus der Ledermappe und begann die Arbeiten durchzusprechen.
»Die kleine Hermann« war doch zu nett. Einzelne in der Klasse verehrten die junge Lehrerin bis zur glühenden Backfischschwärmerei. Sie brachten ihr Blumen und himmelten sie an, wo sie sich zeigte. Aber auch diejenigen, die sich über ihre Schulkameradinnen lustig machten, fanden, daß »die kleine Hermann« sich heute höchst anständig benommen habe. Bei ihrer Unzertrennlichen, der Ulrich, hätte es sicher, sowohl des Radaus wegen eine mächtige Standpauke gesetzt, als auch wegen der ulkigen Benennung. Marlene Ulrich war lange nicht so beliebt bei den Schülerinnen wie Ilse Hermann. Ihr ernstes, pflichtgetreues Wesen verlangte dasselbe auch von ihren Schülerinnen. In der Stunde bei Fräulein Doktor Ulrich wagte keine zu mucksen. Während Ilses kindlich-heitere Natur auch mal einen Spaß verstand. Sie konnte so herzlich mit den Mädeln um die Wette lachen, daß sich eine Art kameradschaftliches Verhältnis zwischen ihnen herausgebildet hatte. Als jüngste Lehrerin hatte sie den Spitznamen »die kleine Hermann«. Heute war die kleine Hermann aber gar nicht so heiter wie sonst. Ihre jungen Verehrerinnen fühlten es gleich heraus, daß sie verstimmt und zerstreut war. Kätchen Braunmüller stieß Evchen Langner mit dem Fuße an: »Du, was hat denn die 'Klein' heute?« »Vielleicht mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden.« Evchens leise geflüsterten Worte lösten unbändige Heiterkeit aus. Die Mädel kicherten in ihre Taschentücher hinein und in die vorgehaltenen Bücher. Sie konnten sich gar nicht beruhigen. Bis es vom Pult ernst mahnend erklang: »Mir scheint es, daß einige morgen auf der Oktoberzensur doch noch einen Tadel haben wollen.«
Potztausend, was war denn in die kleine Hermann gefahren? Die war doch heute so kratzbürstig. Nein, man wollte sie nicht ärgern, die »Kleine«. Größte Aufmerksamkeit herrschte wieder in der Klasse. Ob daran nur die Verehrung für die junge Lehrerin oder nicht vielmehr die unmittelbar bevorstehende Versetzungszensur schuld war, muß dahingestellt bleiben.
Nach der Stunde schlich sich die beste Schülerin, Trude Weidner, herzklopfend zum Pult.
»Fraulein Hermann, bitte, seien Sie mir nicht mehr böse!« Flehendlich hingen die Backfischaugen an ihrer Miene.
»Warum sollte ich dir böse sein, Trude?« Ilse hatte die kleine Episode bei ihrem Eintritt bereits über andere wichtigere Dinge, die ihr im Kopf herumgingen, vergessen. »Weil ... weil ... weil ich Sie 'di kleine Hermann' genannt habe. Sie waren so ärgerlich und verstimmt heute, Fräulein Hermann. Und wenn ich schuld daran habe, das ... das kann ich nicht ertragen!« Das Mädel hatte doch weiß Gott Tränen in den Augen. Es war Ilse zuerst schwer geworden, bei Trudes Selbstanklagen ernst zu bleiben und nicht ihre Mundwinkel zu einem Lächeln zu verziehen. Aber als sie die Zuneigung aus den Worten heraushörte, tat ihr das wohl.
Sie reichte dem Mädchen die Hand. »Ich bin dir nicht mehr böse, Trude!« Kindisches kleines Ding! dachte Ilse. Und dann gleich darauf: Ja, bin ich denn reifer? Das Alter hätte ich doch tatsächlich dazu. Aber ist
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