Nesthäkchen 07 - Nesthäkchen und ihre Küken
mein Kummer nicht ebenso kindisch wie der des Backfischchens? Schlimm genug, daß ich mich nicht einmal in der Unterrichtsstunde davon freimachen konnte, daß die Mädel meine Verstimmung gemerkt haben. Nun wird aber ein dicker Strich unter die dumme Sache gemacht. Was geht mich Klaus Braun an!
Trotzdem suchte Ilse das Lehrerzimmer nicht auf, denn sie wollte das Zusammentreffen mit Marlene noch etwas hinausschieben. Aber in der großen Zehnuhrpause ließ es sich nicht umgehen. Hoffentlich waren noch mehr Damen im Zimmer, daß es nicht zu einer Aussprache kam.
Alles war wie sonst in dem langen, schmalen Lehrerzimmer. An dem langen Holztisch thronte zuoberst die Lehrerinälteste, Fräulein Meerrettich. Ihr Gesicht mit den scharfen Zügen war eine wohlgelungene Illustration des Namens. Fräulein Meerrettich saß vor einem Stoß Hefte mit gezückter Feder, und daneben das kugelrunde Fräulein Oppermann, Turn- und Handarbeitslehrerin. Ganz Gemütlichkeit und Behagen. Mit dicklichen Fingern führte sie die gutbelegten Frühstücksstüllchen zum Munde. Daran schloß sich das ganze übrige weibliche Kollegium an, soweit es nicht Inspektion auf dem Schulhof, an Treppen und Gängen hatte. Zuunterst hatten Marlene und Ilse, als jüngste, ihre Plätze. Ja, alles war wie sonst in dem wohlbekannten Zimmer - »Reitstall« nannten es die beiden Kusinen. Auch das Leuchten in Marlenes dunkelblauen Augen, als sie Ilses Blondkopf endlich erblickte, war ganz wie sonst.
Aber das herzliche Zunicken, das Ilse sonst in verstärktem Maße zurückzugeben pflegte, wurde heute nicht erwidert. Ilse nahm auf ihrem Stuhl Platz und bohrte an Marlenes Gesicht vorbei ein Loch in die gelblich getünchte Wand. Dazu aß sie stumm ihre Frühstücksstullen.
»Ist dir was, Ilse?« forschte Marlene, erschreckt auf die veränderte Freundin schauend. »Ich habe mir heute morgen schon Gedanken gemacht, als du nicht zur Zeit an unserer Ecke warst.«
»Hast du wirklich dazu noch Zeit gefunden?« Es klang spöttisch, was Ilses kindlich offenem Charakter sonst gar nicht lag.
Marlenes sprechende Züge drückten denn auch lebhafte Verwunderung aus. »Freilich habe ich mir Gedanken gemacht«, bekräftigte sie noch einmal. »Nachdem ich fast zehn Minuten vergeblich gewartet habe, mußte ich mich zum Gehen entschließen, um den Schulanfang nicht zu versäumen!« Sie mußte mittags auf dem Nachhauseweg zu erforschen suchen, was mit ihrer Freundin eigentlich los war. Hier gab es zu viele fremde Ohren. So begnügte sich Marlene vorläufig damit, Ilse bittend anzusehen und ihr eine Schinkensemmel zuzuschieben, während sie unauffällig nach dem Butterbrot der Kusine griff. Dieser Tauschhandel war, seitdem sie gemeinsam als kleine Abc-Schützen die Schule besuchten, an der Tagesordnung. Wer etwas Besseres auf dem Frühstücksbrot hatte, ließ den andern daran teilnehmen. Das war eine ganz selbstverständliche, stille Abmachung unter ihnen durch all die Jahre hindurch. Heute schien Ilse davon nichts mehr zu wissen. Die Schinkensemmel blieb unberührt. »Ich habe keinen Appetit mehr«, behauptete sie und ließ sich in ein weitläufiges Gespräch über eine Wandertour in die Mark, welche ihre Nachbarin zur andern Seite für die Oktoberferien vorhatte, ein. Marlene saß da mit ihren fragenden Augen und ihrer zurückgewiesenen Semmel. Es war ja klar, daß Ilse irgend etwas gegen sie hatte. Was bloß?
Die Schulglocke ließ die Damen alle wie eine Schar Krähen aufflattern. Eine jede bewaffnete sich mit Heften, Büchern, Brille oder sonstigen Utensilien. Ilse lief an Marlene vorbei, als ob es irgendwo brenne. Sie hatte es doch sonst gar nicht so eilig, zur Stunde zu kommen. Die Kusinen waren heute alle beide beim Unterrichten zerstreut. Selbst das gewissenhafte Fräulein Ulrich, das volle Aufmerksamkeit von ihren Schülerinnen verlangte, ertappte sich dabei, mitten in der Naturgeschichtsstunde bei einem Vortrag über die Dickhäuter an Ilse Hermanns verändertes Wesen zu denken. Denn Marlene gehörte durchaus nicht in die Klasse der Dickhäuter, sondern hatte ein sehr feines Empfinden.
Gestern mittag, als sie die Kusine zum Geburtstag von Annemarie Braun, oder vielmehr Annemarie Hartenstein, abgeholt hatte, war noch alles in Ordnung gewesen. Sie waren fidel miteinander nach Lichterfelde hinausgezogen, bis - ja, bis sie an der Umsteige-Haltestelle auf Brauns gestoßen waren. Von da an war Ilse verändert. Ganz bestimmt. Gestern war sie kratzbürstig gegen Klaus gewesen und
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