Nesthäkchen 07 - Nesthäkchen und ihre Küken
mußte in die Klinik und übernahm es, die Eltern von dem bösen Geschehnis in Kenntnis zu setzen. Annemarie begab sich mit Flora zur Brandstätte, um das Notwendigste zusammenzusuchen. Hansi war damit einverstanden, bei Herrn Pfefferkorn zu bleiben und dessen Schmetterlingssammlung anzusehen. Was aber fing man mit Klein-Ursel an?
Die wollte absolut nicht bei dem »ollen Onte Bubumann« bleiben. Sie hing sich schreiend an der Mutter Rock und wollte mit hinüber in ihre »Tinnertube« zu ihren »pieben Püppßen«. Alle Versprechungen, alles Zureden nützte nichts. Ursel schrie wie besessen: »Mitdehen ... Lein-Usche mitdehen!« Annemaries Beruhigungen verhallten. Da erschien Frau Lübke als Retter in der Not.
»Wirste woll jleich stille sein, du Schreihals, sonst sperr' ich dich in de düstere Kabuse!« fuhr sie das brüllende Kind an.
Ursel machte ein höchst erstauntes Gesicht und hielt inne. Die »düstere Kabuse« war eine Bezeichnung, die sie noch nie in ihrem Leben gehört hatte. Ihre Neugier war geweckt.
»Zeid mal, zeid mal Lein-Usche Düse«, verlangte sie. Frau Lübke verstand sich auf Kleinkindersprache nur unvollkommen. Annemarie mußte den Dolmetscher machen. »Wenn du jetzt ganz artig sein willst, Urselchen, und bei Frau Lübke bleibst, dann zeigt sie dir die Kabuse«, versprach die Mutter erleichtert. »So atig!« Klein-Ursels Schmerz war gestillt.
Frau Lübke aber machte ein Gesicht, als ob ihr ein Zahn gezogen würde. »Was ... ich soll auch noch Kindermädchen spielen! Das jeht denn doch über die Hutschnur! Na, meinetwejen ... komm man mit 'raus in de Kiche.« Für kurze Zeit herrschte wieder Ruhe.
Kleine Einquartierung
Drüben sah es bös aus. Der ohnehin schon herbstliche Garten war zertrampelt. Alles niedergetreten. Statt der würzigen Luft, die ihnen der Grunewald herüberschickte, war nur feuchtbrenzliger Geruch zu spüren.
Und nun erst drinnen! Geradezu trostlos! Frau Annemarie griff sich immer wieder an die Stirn und fragte sich, ob dies denn tatsächlich ihr trauliches Nest sei. Herrgott, es waren ja keine Kostbarkeiten, die sie sich angeschafft hatten; aber alles war gediegen und geschmackvoll, mit Liebe und Verständnis ausgewählt und zusammengestellt. Was hatte es ihnen in den sieben Jahren für eine Freude gemacht, bald hier, bald dort etwas Neues zusammenzusparen. Die Diele mit ihren hübschen, modernen Korbsesseln stammte von ihrem letzten Geburtstag. Rudi hatte sie damit überrascht. Durchweicht lag dort alles übereinandergeworfen. Die Räume im Erdgeschoß waren noch am besten fortgekommen. Wohn- und Sprechzimmer konnte man leicht wieder instand setzen. Nur die Fensterscheiben waren fast allenthalben von der Hitze gesprungen.
Das Eßzimmer - ihr hübsches Eßzimmer - nein, zum Heulen war es! Eine reine Sintflut. Darin schwamm ihr Nähkörbchen, Kinderstrümpfe, Decken und der neue Kaffeewärmer, den Margot ihr gearbeitet hatte. Als Arche Noah ragte der noch nicht abgedeckte Frühstückstisch heraus. War es wirklich erst wenige Stunden her, daß sie hier gemütlich ihr Frühstück eingenommen hatten, daß Vronli mit der neuen Schulmappe losgezogen war?
Der rote Kokoslaüfer, der die Treppe hinauf bis zum Obergeschoß lag, hatte häßliche braune Sengflecke. Er zeigte die Spuren von lehmigen Männerstiefeln. Puh - war das eine Luft hier oben! Nicht zu atmen. Dieser Brandgeruch legte sich einem wie eine dicke Mauer auf die Lunge. Die Tür des Schlafzimmers hing geborsten, bloß noch Stückwerk, in der Angel. Einen Blick nur warf Annemarie in ihr rosenrotes Reich - sie schloß die Augen. Eine schwarze, rauchende Trümmerstätte. »In den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen, und des Himmels Wolken schauen hoch hinein.« Wie gedankenlos hatte sie diese Worte als Schulmädel heruntergeplappert. Heute empfand sie ihre ganze Tragweite.
Annemarie lehnte den blonden Kopf gegen den angekohlten Türpfosten, und die Tränen flössen ihr die Wangen hinab. Ganz leise und still. Es kam selten vor, daß sie weinte. Bei ihrer heiteren Natur konnte sie sich kaum der Zeit entsinnen. Ja doch - damals, als sie zum erstenmal ihr Kind im Arm gehalten hatte, ihr Vronli - aber das waren Freudentränen gewesen.
Jetzt weinte sie um verlorenes Glück. Nein - nicht doch - energisch wischte sich Frau Annemarie die Augen aus. War sie denn ganz und gar nicht gescheit? Ihr Mann und die Kinder waren ihr unversehrt geblieben, und sie vergoß Tränen um leblose, ersetzbare Gegenstände.
Ersetzbar -
Weitere Kostenlose Bücher