Nesthäkchen 07 - Nesthäkchen und ihre Küken
ich stets büffeln mußte. Schon in der Schule.« Während Margots Gedanken hinter Annemarie herspazierten, flogen die Annemaries zurück zu dem Arbeitsraum, der der Freundin Leben umschloß. Ein beschämendes Gefühl kam der jungen Frau, daß ihr gerade Margot, auf die sie ihrer geringeren geistigen Befähigung und ihrer Bescheidenheit wegen als Mädel stets ein wenig herabgesehen hatte, jetzt die Hand bot, um ihr zu helfen.
Bei Vera traf sie es schlecht. Drei Parteien mit Kindern warteten bereits, denn sie hatte inzwischen für künstlerische Kinderbildnisse einen Ruf bekommen. Nur einen Augenblick konnte Vera den Kopf aus dem Atelier herausstecken. »Ach, Annemarie, wie lieb! Nurr bin ich grrade serr von Kinderr heimgesucht. Kannst du warrten? In einerr Stunde werrde ich sein gewiß ganz ferrtig.«
»Total hops! Denkst du, ein Arbeitsloser hat nicht mehr zu tun, als bei der gnädigen Fotogräfin zu antichambrieren? Sag mir nur, ob du nächsten Mittwoch zum Kaffee zu mir kommen kannst; nach Charlottenburg natürlich, in meinem Mädchenstübchen seligen Angedenkens. Bei uns in Lichterfelde tanzen noch die Mäuse über Tisch und Bänke.«
»Natürrlich muß ich rrichten ein das. Ich werrde kommen, aberr errst nach sechs. Brruder Stani wirrd holen mirr ab in die Abend.«
»Sind eure Flitterwochen denn noch nicht vorüber, Verachen? Ein Jahr wohnt ihr jetzt schon beisammen und seid noch unzertrennlicher als unsere Siamesischen.« »Wirr haben nachzuholen viel, serr viel, Brruder Stani und ich. Unserre ganze Kinderrund Jugendjahrre. Aberr nun muß ich dirr werrfen rraus ...«
»Ich geh' schon allein. Kriech nur wieder in deinen Knipskasten zurück. Auf Wiedersehen, Verachen.«
»Auf Wiederrsehen ... besuch mirr bald wiederr.«
»Werd' mich hüten nach dem heutigen gastlichen Empfang.«
Annemarie stand im Oktobersonnenschein auf der Straße und überlegte. Wo nun hin? Zu den Unzertrennlichen? Wenn sie »die Füße in die Hand nahm« - wie Tante Albertinchen ein etwas eiligeres Gangtempo zu bezeichnen pflegte - dann kam sie noch gerade zurecht zum Schulschluß. Es war ein tüchtiges Ende, aber fahren - nee, so hatte man das Geld jetzt nicht übrig.
Der Tiergarten stand noch im Herbstschmuck. Die Oktobersonne ließ die Farben leuchten. Die Charlottenburger Chaussee entlang flimmerte es wie lauter Gold. Eigentlich gab es doch recht viele Nichtstuer. Sie mußte sich schämen, daß sie augenblicklich auch zu den Drohnen gehörte, die dem lieben Herrgott die Zeit fortstehlen. Wenn sie jetzt draußen in Lichterfelde wäre, müßte sie am Kochherd stehen, anstatt hier im schicken, grauen Herbstkostüm durch den Tiergarten zu spazieren und bewundernde Blicke aufzufangen.
Der Herr, der ihr soeben entgegenkam, schaute sie aber zu dreist an. Das war schon unverschämt.
»Neschthäkche, bischt' soder bischt' snit?« Der betreffende Unverschämte rief es voller Freude. Beide Hände streckte er ihr entgegen. »Ja, grüß dich Gott, Neschthäkche, das nenn' i halt Glück.«
»Der Viehdoktor ... na, so eine Überraschung!«
»Gelt? Seit deiner Hochzeit bin i nimmer in eurem Sündenbabel gewesen, Neschthäkche. Aber arg guet schaust aus. Halt noch schöner geworde als damals.« »Ach, quatsch keine Opern, Viehdoktor. Eine alte Frau bin ich inzwischen geworden ...« »Ja, wenn die so ausschauen tun bei euch, hernach nehm' i mir auch eine alte.« »Was ... du bist doch schon verheiratet. Wir haben dir doch ein Telegramm geschickt zu deiner Hochzeit.«
»Richtig, das hab' i halt ganz vergesse, Neschthäkche. Du warst meine erschte Liebe ... sollst auch meine letzte sein«, begann er ungeniert und genau so unmelodisch wie früher zu singen.
»Viehdoktor, du scheinst noch eben solch ein Windhund zu sein wie Anno dazumal. Wenn du jetzt auch Spezialarzt für Pferde, Hunde, Katzen und Rindviecher bist. Du, ich hab' keine Zeit, hier noch länger wie eine Bildsäule stehenzubleiben. Wenn du nichts Besseres vorhast, darfst du mich begleiten. Ich bin gerade im Begriff, Marlene und Ilse feierlich von der Schule abzuholen.«
»Holla, das Dreimädlehaus gleich beieinand'. I hab' scho' ganz gewiß nit Besseres vor, Neschthäkche, als hier im Sonnenschein mit einer schönen, jungen Frau zu promeniere. Aber jetzt müsse mer halt a bißle schwätze. Wie schaut' saus im Lichterfelder Nescht? Wie geht' dem g'stregen Herrn G'mahl? Jammerschad' ischt's halt g'wese, daß der uns damals den Rang abg'laufibat. Das Karpfenaug' kann's noch immer nit
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