Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste
Schwester Ursel. Aber daß der Brasilianer Zigaretten im Überfluß hatte, von denen er Hans freigiebig spendierte, daß er niemals in der Geldklemme saß, wie es Hans des öfteren mit seinem bescheidenen Taschengeld erging, das fand er beneidenswert. Was aber den noch hinter Schulmauern schwitzenden Jungen am meisten beeindruckte, war, daß Milton Tavares schon soviel von der Welt gesehen hatte. Die weite, große lockende Welt da draußen, die verkörperte ihm der Brasilianer. Mit heißen Wangen, wie er früher seine Indianer- und Seefahrergeschichten verschlungen hatte, so lauschte Hans den Berichten aus einer fremden Welt. Und es stand fest bei ihm: Da muß ich auch mal hin! Auch heute ließ Hans sich zum soundsovielten Male von den Herrlichkeiten der Tropenwelt berichten. Der Professor, der an seinem Spalierobst bastelte und ab und zu Brocken der begeisterten Schilderungen aufschnappte, rief zu seinem Jungen herüber: »Du, Hansi, rauche nicht wie ein Schornstein! Ein, auch zwei Zigaretten meinetwegen. Aber mehr ist halt vom Übel. Die Lungen eines heranwachsenden Buben sind noch nicht so widerstandsfähig.«
»Ach was, im nächsten Monat bin ich achtzehn, da bin ich kein Bub mehr«, verteidigte Hansi seine Männerwürde vor dem älteren Freund.
»Ein Schulbub bist und bleibst du vorderhand noch.« Professor Hartenstein war nicht gewöhnt, ein Blatt vor den Mund zu nehmen.
»Ja, leider bin ich noch ein Schuljunge, leider! Aber nicht mehr lange! Dann geht's hinaus in die Welt - hinüber nach Südamerika. Dann will ich all das Herrliche mit eigenen Augen schauen, von dem Milton erzählt. Nicht wahr, Sie nehmen mich mit auf Ihre Kaffeeplantage?« Der sonst so ruhige Junge war gar nicht wiederzuerkennen. »Freilich, Hans. Ein tüchtiges garcon wie Sie macht in Brasilien sein Glück«, bestärkte ihn der Ältere.
»Hören Sie, Herr Tavares, tun Sie mir halt den Gefallen und setzen Sie dem Bub keine Flausen in den Kopf. Er soll in seiner deutschen Heimat ein tüchtiger Mensch werden, und nicht fernen Glücksmöglichkeiten nachjagen.« Der Professor hatte mit Nachdruck gesprochen.
Hans bemerkte es mit Erstaunen. Noch war es ja gar nicht soweit. Leider! Vorläufig lag noch über ein halbes Schuljahr bis zum Abitur vor ihm. Kam Zeit, kam Rat! Der Wortwechsel ging dem Professor nach. Er beschäftigte ihn sogar noch, als er nach dem Essen mit seiner Annemarie den allabendlichen Spaziergang machte in den mit blühenden Linden bestandenen Wegen, die aufs freie Gelände hinausführten. Draußen im Garten spielte Hans mit Margarida trotz einbrechender Dämmerung Tischtennis. Drinnen sang Ursel Schubertlieder zu Miltons Begleitung; denn dieser war nicht nur ein vorzüglicher Geiger, auch auf dem Klavier zeigte er feines musikalisches Verständnis. Auch Frau Annemarie war heute gegen ihre Gewohnheit schweigsam. Und merkwürdig - die geheimen Gedanken der beiden Ehegatten, die sonst alles, was sie beschäftigte, gegeneinander auszusprechen pflegten, drehten sich um denselben Punkt. Den Brasilianern galt ihr Sinnen, die Einfluß auf ihre Kinder bekommen hatten. War es möglich, daß sie sie aus den ruhigen Bahnen des Alltags hinauslocken konnten in Ungewisse Fernen?
Ein ereignisreicher Tag
Unerträglich war es jetzt in der Bank. Ein Teil der Beamten war auf Sommerurlaub und das zurückbleibende Personal besonders stark mit Arbeit überhäuft. Heute war es wieder recht scharf zwischen Herrn Müller und Ursel zugegangen. Herr Müller wollte sich nicht länger mit einem aussichtslosen Banklehrling herumquälen und mit dem Direktor Rücksprache nehmen, daß es ein Ende haben müsse. Worauf Ursel ihre Bücher erregt zuklappte und zum Entsetzen der Kollegen mit den Worten: »Sie können mich gleich loswerden - je eher, um so lieber!« den Bankraum verließ, der ihr so unsympathisch war. Und nun stand sie draußen und atmete tief auf. So - dieser Abschnitt ihres Lebens lag hinter ihr.
»Zehn Pferde bringen mich hier nicht wieder hinein!« murmelte sie vor sich hin.
Nach Hause zu fahren hatte sie eigentlich noch gar keine Lust. Zu der elterlichen Standpauke kam sie immer noch früh genug. Zur Großmama ihre Zuflucht nehmen mochte sie auch nicht. Dort kam ihr jetzt alles verödet vor, seitdem die Tavares nach Pyrmont gereist waren. Marga war ein wenig müde, da hatte Professor Hartenstein ihr den Aufenthalt in diesem Bad verordnet. Und der Bruder war als ihr Dolmetscher und Beschützer mitgereist. Eigentlich wäre Milton
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