Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste
die Ursel? Na, daß sie nicht mehr Ernst und Pflichtgefühl als Banklehrling bekam, wenn es heute eine Opernaufführung gab und morgen ein Konzert, das lag auf der Hand. Gerade von der Oper wollte der Professor sie doch fernhalten. Viel zu sehr verwöhnt wurde sie ihm. Stets brachten die Brasilianer ihr Schokolade und Süßigkeiten mit. Aber dabei blieb's nicht. Kaufte sich Margarida seidene Strümpfe oder feine Lederhandschuhe, ihre Freundin Ursel mußte dasselbe haben wie sie. Bald war es ein Täschchen, bald Parfüm oder sonstige Luxusartikel, mit denen die Freundin Ursel überschüttete. Das Allerschlimmste war aber, daß der Professor mit seiner Frau diesmal nicht der gleichen Meinung war. Annemarie genoß ganz besonders mit ihrer Ursel all das Schöne mit, was die brasilianischen Freunde ihr in ihr Leben trugen. Unrecht wäre es gewesen, dem Kinde die Freude zu zerstören. Ursel war so heiter in dieser Zeit, daß es Frau Annemarie geradezu grausam erschien, ihre Freude zu trüben. Freilich, so ganz unrecht konnte sie ihrem Mann im Grunde ihres Herzens nicht geben. Sie sah es selbst ein, Ursel wurde über die Maßen verwöhnt, was bei ihr besonders gefährlich war. Bei ihrer Ältesten, der Vronli, hätten die Brasilianer mit ihrem Reichtum niemals Schaden angerichtet. Aber Ursel, an und für sich schon zum Wohlleben neigend, verdrehten sie das blonde Köpfchen noch mehr, als es schon ohnehin der Fall war. Wie sollte das später werden, wenn die Tavares wieder nach Brasilien zurückgegangen waren? Ach was, Ursel war ja klug. Für sie stellte das Zusammensein mit den Ausländern lediglich eine angenehme Episode in ihrem Leben dar, wie auch Frau Annemarie es betrachtete. Und überhaupt, man konnte die liebenswürdigen Aufmerksamkeiten der brasilianischen Geschwister nicht zurückweisen. Denn nur auf diese Art konnten sie sich für die Unterrichtsstunden erkenntlich zeigen, da Ursel jede Bezahlung stolz und energisch zurückgewiesen hatte. Mit diesem Argument pflegte Frau Annemarie ihre eigenen Bedenken wie die ihres Mannes, zu beschwichtigen. Als Ursel im rosa Mullkleid wieder auf die Terrasse heraustrat, war sie höchst verwundert über Mutters nachdenkliches Gesicht. Milton Tavares rauchte schweigsam seine Zigarette. Margarida scheute sich immer noch zu sprechen, wenn man sie nicht gerade etwas fragte, da ihr die deutsche Sprache noch Schwierigkeiten bereitete.
»Nanu?« machte Ursel erstaunt. »Habt ihr euch gezankt? Die Unterhaltung ist ja mächtig lebhaft.«
Frau Annemarie strich sich mit der Hand über die Stirn, als könne sie damit all die lästigen Gedanken, die ihr soeben gekommen waren, ebenfalls fortwischen. In der Tat, sie hatte ihre Gastgeberpflicht vernachlässigt. »Ich überlegte nur etwas ...« sagte sie, sich entschuldigend an die Geschwister wendend.
»Ich legte auch über«, pflichtete ihr der Brasilianer bei. Sein Auge hing wie gebannt an der reizenden Mädchenerscheinung unter blühendem Rosengerank.
»Hahaha -« Ursels glockenhelles Lachen verscheuchte das Schweigen, das noch eben schwer über den dreien auf der Terrasse gelegen hatte. »Also wenn ihr genug überlegt habt, können wir an die Arbeit gehen, Marga, erst kommst du dran.« »Aber Ursel, du hast ja dein bestes Kleid angezogen, was fällt dir denn ein?« Frau Annemarie erblickte erst jetzt ihre Tochter mit vollem Bewußtsein.
»Ach, geliebte Muz, es ist das allerleichteste, was ich besitze. Und wenn Marga so fein ist, will ich mich auch schön machen«, bat das junge Mädchen.
»Nein, Ursel, du ziehst dich um. Für deinen Vater ist es nicht so leicht, dir neue Kleider zu finanzieren«, meinte die Mutter energisch.
Ursel setzte ihr Trotzköpfchen auf. Milton Tavares aber rief: »Oh, Donna Ursel ist schön in jedes Kleid.« Da zerteilten sich die Wolken wieder auf der Stirn der jungen Dame, und sie kam dem Wunsche der Mutter nach.
Etwas später zogen Haydnsche Klänge aus dem Musikzimmer in den Garten hinaus. Ursel und Margarida waren eifrig bei der Arbeit. Zu Milton Tavares, der während der Klavierstunde von Ursel meist »rausgeworfen« wurde, denn »Kritik brauchen wir nicht«, wie sie zu sagen pflegte, hatte sich Hans Hartenstein gesellt. Ähnlich wie Margarida Tavares an Ursel hing, so hatte sich der Oberprimaner an den jungen Ausländer angeschlossen. Dieser verkörperte für ihn alles, was Hans begehrenswert erschien. Daß er ein fescher, gutgekleideter junger Mann war, verstand Hans weniger zu würdigen als seine
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