Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
nicht nur die Kinder, auch Theater und Konzerte, in die man früher so gern gegangen war, ließen die alten Leutchen jetzt zu sich herauskommen. Der Rundfunk vermittelte ihnen all diese Genüsse auf das beste, ohne daß man einen Fuß vor die Tür zu setzen brauchte. Man saß gemütlich in einer Sofaecke, trank seinen Tee, rauchte seine Abendzigarre, strickte oder häkelte und genoß dabei die »Fledermaus«, den »Barbier« oder auch den »Troubadour«, Orchesterkonzerte, Solisten und Vortrage.
»Der Rundfunk macht einen vor der Zeit alt«, pflegte Frau Annemarie zu bemerken, ließ sich aber nichtsdestoweniger die damit verbundene Bequemlichkeit recht gern gefallen. Sie war dankbar und glücklich, wenn sie abends in ihrer Sofaecke saß und den Rundfunk hörte.
Anders der alte Herr. Der hatte jetzt ja öfters was zu nörgeln und auszusetzen. Natürlich auch an dem Radio. Bald spielte es zu leise - der alte Geheimrat hörte schon etwas schwer - und mußte verstärkt werden. Mit dem Erfolg, daß es schnarrte und knatterte, daß einem das Trommelfell platzte. Oder das Piano in dem Violinsolo war unbedingt zu scharf - er verstand sich doch darauf, das mußte ganz zart herauskommen - und es wurde so pianissimo, daß überhaupt nichts mehr zu hören war. Über fünfundvierzig Jahre hatten Geheimrats nun schon in der harmonischen, liebevollsten Ehe gelebt, aber jetzt kam es öfters zu Kabbeleien zwischen ihnen. Und nur wegen des Rundfunks. Wenn Frau Annemarie gerade im Lied an den Abendstern schwelgte - bums - da war er erloschen. Lauschte sie andächtig Schuberts Frauenliebe und Leben, so verwandelten sich die zarten Lieder plötzlich in einen ohrenbetäubenden Marsch. Himmelhoch beschwor sie ihren Mann, doch bloß die Hände von dem Apparat zu lassen. Kunze verstand das tausendmal besser.
Nun, ehrgeizig war Rudolf Hartenstein sein Leben lang nicht gewesen. Auszeichnungen wie der Professor- und später der Geheimratstitel hatten ihn wohl gefreut, aber er legte ihnen weiter kein Gewicht bei. Jetzt auf seine alten Tage wurde er ehrgeizig. Er nahm es seiner Frau ernstlich übel, daß sie Kunze, seinem Diener, der erst durch ihn in allem angelernt worden war, mehr zutraute als ihm selbst. Die auswärtigen Stationen wiederum ärgerten Frau Annemarie. Ihr genügte es, von der Berliner Sendestation gute Musik zu empfangen. Wozu brauchte sie aus Rom schlecht zu hören. Dem Geheimrat machte es Spaß, zu experimentieren und auf auswärtige Wellen einzustellen. Hatte seine Frau noch eben ein Schumannlied mitgesummt, da schlug mit einem Mal Jazzmusik an ihr Ohr. Oder mitten in einem bunten Abend, der ihr viel Vergnügen bereitete, gondelte sie auf einer Welle plötzlich nach London. Ja, wenn es noch nach Brasilien und Sao Paulo gewesen wäre!
Tatsächlich, das Radio störte das Familienglück. Wollte Frau Annemarie hören, so hatte ihr Mann sicher gerade Lust zum Plaudern. »Den ganzen Tag hast du deinen Mann nimmer, und abends bist halt jetzt auch nit mehr für ihn da.« Dabei hatten sie meistens den Nachmittag gemeinsam verbracht. Wollte der Geheimrat aber mal irgend etwas, was ihn besonders interessierte, im Rundfunk hören, so kam sicher gerade Marietta nach Hause. Dann stellte Großmama das Radio ganz leise und war nur noch Ohr für die Enkelin. Ja, dann hieß es natürlich: »Diese Weibsleut mit ihrem Geschwätz - nit einen Augenblick können's den Mund halten.«
Heute herrschte eitel Friede in dem grünverhangenen Zimmer. Frau Annemarie häkelte an ihrem Bettjäckchen und wackelte ab und zu im Takt dabei. Der Geheimrat las seine medizinische Zeitung und dachte nicht daran, seine Frau auf irgendeiner Welle davonschwimmen zu lassen.
»Rudi, da mußt du zuhören, das ist etwas für dich. Ein Piano hat die Sopranistin - sie erinnert mich an unser Urselchen«, rief Frau Annemarie plötzlich mit erhobener Stimme. Der Geheimrat brummte etwas von »Keinen Augenblick nit Ruh'», stellte aber das Radio lauter. »Viel zu leise ...«
»Herrgott, Rudi, das Knattern ist ja gar nicht auszuhalten. Es klang doch so schön«, beschwerte sich Frau Annemarie.
»Geduld - es kommt halt noch viel schöner ...«
»Rudi, stell anders ein, Maschinengewehrfeuer ist dagegen Sphärenmusik. Um jeden Genuß bringst du mich durch das unnütze Herumgebastele. Kunze soll kommen ...« »Ja, was versteht denn Kunze davon? Ich werd' doch wohl meinen Apparat selber richten können. Halt, gleich hab' ich's.« »Aber das ist ja ganz was anderes ...«
»Sehr
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