Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
Vergebens warteten die Hortkinder nach Fertigstellung ihrer Tapeten, Teppiche und sonstiger Einrichtungsgegenstände für das Puppenhaus auf Tante Jetta und die versprochene Belohnung. Zum ersten Mal hielt Tante Jetta heute nicht Wort. Gewissenhaft hielt sie sich von den andern Kindern fern und versuchte der armen Mausi jede nur mögliche Erleichterung zu verschaffen.
Die enttäuschten Kinder, die vergeblich warteten, begannen wieder Unfug zu treiben. Sie verdarben sich gegenseitig die mühsam verfertigten, netten Sachen und fingen, da Tante Martha gerade in der Küche die Schüsselchen mit Grießbrei füllte, wiederum an zu johlen und sich zu balgen.
Der Lärm lockte Fräulein Jungmann herbei. »Ja, Kinder, was soll denn das heißen? Schämt ihr euch nicht, euch so ungezogen zu benehmen?« donnerte sie in den Tumult hinein. Vor Tante Jungmann hatten sie alle Respekt, die Kleinen sowohl wie die Großen. Eingeschüchtert ließen sie voneinander ab.
»Wo ist Tante Marietta?« forschte die Leiterin ärgerlich. An den Tagen, an denen Marietta im Hort arbeitete, pflegten derartige Radauszenen nicht vorzukommen. Ingeborg erstattete Bericht, daß Tante Jetta zu den Kleinen gegangen und nicht wiedergekehrt sei. In der Laufkrippe erfuhr Fräulein Dr. Jungmann, was sich zugetragen hatte. »Sie haben verständig und umsichtig gehandelt, Fräulein Tavares«, sagte darauf die Hortleiterin, den Isolierraum betretend. »Aber Sie hätten irgendein anderes junges Mädchen bei dem Keuchhustenkind lassen sollen. Ihre Unterstützung ist mir in den Sälen von größerem Wert.«
Die Türglocke begann jetzt zu läuten, immer in kurzen Abständen. Das waren die von der Arbeit kommenden Mütter, die ihre Grießbrei löffelnden Kleinen aus dem Kinderhort heimholten. Wie leuchteten die Augen in den blassen, verarbeiteten Gesichtern beim Anblick des Lieblings, den sie den ganzen Tag entbehren mußten. Wie sprangen die Kleinen der Mutter in die Arme.
»In'n Hort ist scheen, aber bei Muttern is's noch ville scheener!« rief Paulchen mit strahlendem Gesicht.
Mausis Mutter wurde davon verständigt, daß sie ihre Kleine mit Rücksicht auf die anderen Kinder für einige Wochen zu Hause behalten müßte. »Ach Jotte doch, ach Jotte doch, nu hatte ich jrade so'n scheenen Verdienst, und nu muß ich wieder mit der Arbeit aufhören. Wo soll ich denn Mausichen bloß lassen? Die Nachbarin hat selbst sechse, die wird sich hüten und Mausichen auch noch nehmen. Noch dazu mit'n Keuchhusten.« Marietta wandte sich bittend an die Leiterin. »Würde ein Kinderkrankenhaus die Kleine nicht aufnehmen?« fragte sie leise.
»Nee, in 'n Krankenhaus jeb' ich mein Mausischen jar nich. Da krieg' ich ihr nicht lebendig wieder raus. Lieber hungern wir.«
»Sie sollen nicht hungern, Frau Adumat«, versprach Marietta. Unten auf der Straße, im Regengeriesel des frühen Dezemberabends, durch den die Mutter sorgenvoll mit ihrem Kinde heimging, wurde sie plötzlich zurückgehalten und fühlte einen Papierschein in ihrer kalten Hand.
»Das ist für Mausis Pflege, und recht gute Besserung!« sagte eine liebe Stimme. Es war doch schön, Geld zu haben - wenn man andern damit helfen konnte.
Das Radio ist schuld
Der Weihnachtsmonat hatte diesmal nicht den von der Jugend ersehnten Schnee gebracht. Graue Regentücher spannten sich über Berlin, hingen sich triefend an die Dächer und hüllten auch draußen in Lichterfelde Villen und Gärten in feuchtgraue Gewebe. Ungemütlich war's da draußen. Regen von morgens bis abends, vom Abend bis zum Morgen. Die Wege aufgeweicht, das Strauchwerk wüst auseinandergerissen. Geheimrats farbenfreudiges Rosenhaus stand seines Schmuckes beraubt, griesgrämig, schemenhaft in all dem Grau.
Drinnen war's um so gemütlicher. Bei der grünverhangenen Lampe saßen die beiden alten Leute in ihrer Sofaecke traulich am Teetisch. Das Wasser in dem blitzblanken Messingsamowar begann schon unternehmungslustig zu brodeln. Frau Annemarie und ihr Mann hörten Radio.
Der Rundfunk spielte eine große Rolle bei Geheimrats. Nur selten mochten sie noch abends ausgehen. Allenfalls mal zu den Kindern; zu ihrem Sohn Hans, dem Fabrikbesitzer in Zehlendorf, oder, was noch seltener geschah, zu der weiterentfernten Tochter Vronli, zu Professor Eberts. Beinahe nur an Geburtstagen wurde die umständliche Landpartie nach dem Norden unternommen. »Die Kinder müssen jetzt zu uns kommen. Die Eltern sind lange genug für sie gelaufen«, bestimmte der Geheimrat. Aber
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