Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
still die Großmama war.
»Das ist nimmer eine Erholung für dich, Marietta, wenn du der Leithammel von einer ganzen Herde sein sollst, du brauchst auch mal Ruh' für dich. Gelt, Fraule?«
»Ja, aber Großmuttchen, du sagst ja gar nichts?« verwunderte sich Marietta. »Freust du dich nicht, daß ich an die Waterkant zu Onkel Klaus und Tante Ilse fahre - ist es dir nicht recht?«
»Nein, Jetta, ehrlich gesagt, ganz und gar nicht! Wir haben uns darauf gefreut, der Großpapa und ich, daß wir dich wieder mal ein paar Wochen in Kissingen für uns haben werden. Ja, Kind, alte Leute werden egoistisch!« Das war schon wieder die liebe, heitere Art, mit der die Großmama Selbstkritik übte.
»Ich glaube, die Egoistische bin ich diesmal gewesen, Großmuttchen«, meinte Marietta kleinlaut. »Ich habe nicht an die Enttäuschung gedacht, die euch meine Neuigkeit bereiten mußte. Aber ändern läßt sich nichts daran. Ich muß dem Ruf folgen. Und ich tu's auch gern. Ich liebe das Stückchen Erde besonders. Nun haltet ihr mich gewiß für rücksichtslos.«
»Nein, Jetta, das bist du nicht. Das wissen wir am besten. Es ist mir auch eigentlich mehr um deine eigene Erholung zu tun, mein Herz. Die hast du dort nicht in vollem Maße, der Großpapa hat recht.«
»Ich soll ja im September richtigen Urlaub bekommen, vielleicht können wir dann zusammen nach Kissingen fahren.«
»Das ist zu spät im Jahr für eine Kur. Da käme höchstens der Süden in Betracht. Aber das hat ja noch lange Zeit. Seitdem ich alt bin, habe ich mir das Pläneschmieden abgewöhnt. Es kommt doch immer anders.«
»Schau, Weible, was hast du denn heut? So elegisch kenn' ich dich doch nimmer. Also pack halt deine Sachen, wir zwei beid' fahren nach Kissingen«, tröstete der alte Herr. »In unserm Garten ist' ebenso schön.« Frau Annemarie hatte die Lust verloren. Im Wartesaal des Bahnhofs standen die blassen Großstadtkinder, Rucksäcke auf dem Rücken. Neben ihnen die Mutter, eine Tante oder auch ein großer Bruder, der ihnen das Köfferchen trug. Es schwirrte von Kinderstimmen wie in einem Bienenstock. Eine junge Dame, ein Reisehütchen auf dem goldbraunen Haar, schritt von einem zum andern und verteilte kleine Schilder mit Namen, Nummern und dem Reiseziel. Ein Herr der Ferienkolonie verlas die Liste.
»Zwei fehlen noch, Fraulein Tavares. Wir haben noch zehn Minuten Zeit. Auf die Jungen werden Sie besonders achten müssen, daß keiner die Tür öffnet oder gar an die Notbremse geht. Wird Ihnen nicht bange bei fünfzig Gören?«
»Nein, ganz und gar nicht. Wir sind ja auch unserer zwei. Fräulein Wohlgemut hat ja schon öfters Ferienzüge geleitet.«
Trotzdem schien die zweite, schon ältere Dame fast noch aufgeregter als die Kinder. Sie rannte vom Eingang zum Wartesaal, und vom Wartesaal zur Bahnhofshalle, um nachzuschauen, ob die Nachzügler denn noch immer nicht kämen.
»Lotte, du bist die älteste, du führst den Zug an«, bestimmte Marietta und stellte Lottchen Müller, die ihre kleine Kusine Lenchen an der Hand hielt, in die erste Reihe. Lotte nickte stolz. Sie war glückselig, daß Marietta Lenchen und sie mit nach Lüttgenheide nahm. Auf einer Seite der Kinder stand Vater Kunze mit dem Gepäck, auf der andern Seite Lenchens Mutter. Im Hintergrund in einer Ecke aber saß die Tante Geheimrat. Sie hatte es sich nicht nehmen lassen, den weiten Weg zum Bahnhof mitzukommen.
Frau Annemarie schaute mit gemischten Gefühlen auf die muntere Schar, die ihren Liebling entführen wollte. Oh, sie gönnte es ja den Blaßschnäbelchen allen, daß sie aus dem staubigen Berlin heraus auf die grüne Weide kamen. Seit Jahren nahm Lüttgenheide, das Gut ihres Bruders, Ferienkinder auf. Aber es gab ja so viele Jugendleiterinnen. Warum mußte gerade Marietta diejenige sein. Freilich, sie war ganz besonders dazu befähigt. Sie hatte unbedingtes Organisationstalent und eine freundliche Bestimmtheit den Kindern gegenüber, welche die Großmama gar nicht in ihr vermutet hatte. Sie verlor ihre Ruhe nicht, obwohl man von allen Seiten auf sie einsprach, mit tausend Wünschen und Anliegen zu ihr kam.
»Freilein, heren Se mal, Freileinchen« - das war eine der Mütter - »passen Se doch'n bißchen auf meinen Karlemann auf, daß ihm unterwegs nich etwa schlimm werden tut. Karussellfahren kann er auch nit vertragen.«
»Es wird für alle Kinder gut gesorgt werden.«
»Fräulein, daß se mer bloß mein Anneken beis Einsteijen nich totdrücken. Se is doch man noch so kleine
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