Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
und spillerig.« Trotz ihrer vielen Obliegenheiten wandte sich Marietta der bittenden Mutter zu. Das war echte Mutterliebe und Sorge, die da bat. »Wer ist Ihr Töchterchen? Anna Froschschenkel? Die nehme ich selbst an die Hand. Das ist ja unser Nesthäkchen«, beruhigte sie die besorgte Mutter.
»Fräulein, jeht' si och nich los« - »Fräulein, der Junge schubst mir immer« - »Ach, liebes Fräulein, können Sie nicht die Stullen für meinen Walter in Verwahrung nehmen? Der Junge ist so verfressen, der ißt sie sonst alle auf einmal auf.«
Und schließlich war' s oweit. Die aufgeregte Kinderschar, die noch aufgeregteren Mütter, alles schlängelte sich hinaus auf den Bahnsteig. Das Einsteigen vollzog sich in bewunderungswürdiger Ordnung. An den Fenstern standen sie, die Berliner Ferienkinder, und winkten und riefen hinaus: »Grüß' auch 'n Vater« - »Kommt mit dicken, roten Backen wieder, Kinder« - »Jrete, wenn du nich hören tust, dann schicken se dich wieder retour« - »Mutta - Mutta - nee, ich will nich mit, ich will lieber bei dir und Hektoren bleiben« Tücher wehten - Kinder winkten und jauchzten - Tränen flossen. Und zwischen all den Gören stand Marietta, das hinauswinkende Froschschenkelchen auf dem Arm. Nun, so einfach war es nicht, die vielen erregten Kinder während der langen Bahnfahrt am Bändel zu halten. Der Herr von der Ferienkolonie hatte recht. Sie zankten sich um die Plätze. Sie ließen die Fenster hinauf- und herunterrasseln. Sie stellten den Heizungshebel von kalt auf warm. Sie untersuchten - o Schrecken - sogar den Mechanismus der Türschlösser. Aber umsonst hatte man nicht seit Wochen draußen im Grunewald die wilden Horden in Schach gehalten. Marietta griff zu einer Kriegslist. Sie rief zur Fütterung. Nichts besänftigt so die Gemüter wie ein belegtes Butterbrot. Plötzlich waren sie alle wieder zahm und brav. Und als man erst jedes glücklich auf seinem Platz hatte, da war es nicht allzu schwer, sie durch gemeinsame Spiele zu fesseln. Ohne daß die Notbremse gezogen oder eins hinausgestürzt wäre, kam man in Kiel, der Umsteigestation, an. Hier bestieg man das bereitstehende Bimmelbähnchen nach Lüttgenheide. Die letzte Stunde war, wie immer, die längste. Die Kinder wurden müde und ungeduldig. Aber schließlich hat auch die längste Stunde nicht mehr als sechzig Minuten. Mit pünktlicher Verspätung lief das Bähnchen ein. Ein großer, vierschrötiger Herr, ein blonder Riese, dem man den Landwirt schon von weitem ansah, trat auf die Damen zu. »Braun ist mein Name«, stellte er sich vor. Dann wandte er sich zu den Kindern. »Also Willkommen, ihr Gören! Wir wollen euch hier schon rausfüttern. Welche der Damen hat die Aufsicht über die Lüttgenheider Ferienkinder?«
»Ich«, sagte Marietta mit einem spitzbübischen Lächeln. Sie hatte es nicht an die Verwandten geschrieben, daß sie die Ferienkinder nach Lüttgenheide begleitete. Ihre gesellschaftliche Pflicht erfüllend, fuhr sie fort: »Mein Name ist ...«
Aber sie kam nicht weiter. »Jetta!« rief der Gutsherr ebenso erstaunt wie erfreut aus. »Jetta, lütte Dirn, das ist ja eine famose Überraschung!« Vetter Peter versetzte ihr ohne alle Umstände einen verwandtschaftlichen Kuß. »Wo hast du deine alten Herrschaften? Nicht mitgebracht? Schade! Was werden sich meine Alten freuen! Also rein mit euch, ihr Lütten, auf dem Lüttgenheider Leiterwagen. Die Grotgenheider Wagen halten drüben auf der andern Seite.«
Die beiden ältesten Sprößlinge Peters, zwei handfeste Blondköpfe von sieben und neun Jahren, thronten stolz auf den mit Tannengirlanden umkränzten Leiterwagen. Der eine hielt die Peitsche, der andere die Gäule.
»Kennst die Schlingel noch, Jetta? Das ist hier der Hansing und dies unser Fritzing. Du kannst sie mit in deine Herde einreihen. Kann ihnen nur von Nutzen sein. Den Banditen ist kein Baum zu hoch und kein Graben zu breit.«
Während Marietta in ihrer herzgewinnenden Art die Bekanntschaft mit den beiden kleinen Burschen erneuerte, verlud Peter Braun die »Lütten«. Die großen Leiterwagen waren mit Stroh belegt. Vorn war eine gepolsterte Bank für die »Damens«. Stück für Stück wurde das Berliner Kleinzeug »verladen«. Das gab ein Juchhei da oben im Stroh. Und dann ging's los. Durch heuduftendes Land die Kirschchaussee entlang. Hochbeladene Wagen mit dem würzigen Heu rollen schwerfällig dem Hofe zu. Windmühlen breiten den Ankömmlingen ihre Arme entgegen. Gedämpftes Rauschen - das nahe
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