Nestor Burma in der Klemme
sprachlos war ich.
Die Wanduhr zeigte elf. Ich stürzte zum Telefon.
Seit einiger Zeit brachte der Crépuscule eine Morgenausgabe heraus. Marc
Covet war bestimmt in der Redaktion, und mit ihm mußte ich unbedingt sprechen.
Faroux hätte sich eigentlich noch besser dafür geeignet, aber ihn wollte ich nicht
in mein neues Geheimnis einweihen.
Das Telefon zierte sich ein wenig. Beim fünften
Versuch hatte ich den Journalisten endlich an der Strippe. Sein dröhnendes
„Hallo!“ ließ beinahe mein Trommelfell platzen. Er war sehr aufgeregt.
„Hab schon den ganzen Tag versucht, Sie zu
erreichen!“ bellte er mich an.
„Und ich schlag mich schon zehn Minuten mit dem
Apparat rum!“ brüllte ich zurück. „Irgend etwas klappt nicht... Was wollten Sie
mir denn Wichtiges sagen?“
„Daß Sie allen Grund hatten, sich für Bourguet
zu interessieren. Seine Frau hat sich heute nachmittag umgebracht.“
„Was?“
„Ja. Und zwar mit einem Ding, das in
bürgerlichen Kreisen eher unüblich ist: mit einem Revolver, Kaliber 7,65, mit
Schalldämpfer.“
„Was?“
„Doch, Sie haben richtig gehört! Aber ich kann’s
noch mal wiederholen, wenn Sie wollen.“
„Nicht nötig. Bleiben Sie da, wo Sie sind,
Covet! Ich komme sofort. Bedeutet zwar eine halbe Stunde Fußmarsch durch die
Kälte, aber ich glaub, es lohnt sich. Ich hab Ihnen nämlich auch was
Interessantes zu erzählen.“
Ich legte auf. Ganz vorsichtig nahm ich die
Pfeife mit dem Stierkopf bei den Hörnern und verstaute sie so, daß sie sich
nicht bewegen konnte. Dann zog ich meinen Mantel über und setzte meinen Hut
auf.
„Ich muß noch mal weg“, sagte ich zu Lydia. „Ich
bin richtig glücklich.“
„Weil du mich alleine läßt?“
„Nein. Weil ich mich geirrt habe!“
* * *
In der Dunkelheit machte das Gebäude des Crépu einen düsteren Eindruck. Die leeren Flure hallten von meinen Schritten wider.
Ein Lichtstrahl unter einer Tür verriet mir, wo sich Covets Büro befand. Aus
dem Erdgeschoß drang der Lärm der Rotationspressen gedämpft nach oben.
Der Journalist wartete ungeduldig auf mich. In
seiner Reichweite stand eine sehr angebrochene Flasche Rotwein. Ich erbarmte
mich und versetzte der Flasche den Gnadenstoß, während Marc seine sensationelle
Neuigkeit präzisierte.
Madame Bourguets Selbstmord war, zusammen mit
vier oder fünf anderen, durch eine Nachrichtenagentur gemeldet worden. Als
Covet davon erfahren hatte, war er sofort in die Avenue du Parc-des-Princes
geeilt. Daher wußte er, welche Waffe — mit der unbürgerlichen Vorrichtung! —
Madame Bourguet benutzt hatte. Mein Freund war überzeugt, daß ich mehr darüber
wußte.
„Halten Sie sich fest, Covet! „ begann ich
lächelnd. „Ich hab was ganz Besonders für Sie: Madame Bourguet war Thévenons
Geliebte, die geheimnisvolle Frau mit dem Schleier!“
„Oh!“
Marc pfiff durch die Zähne und riß die Augen
auf. Ich berichtete ihm von meinem Rendezvous heute morgen in der Agentur und
dem Bestechungsversuch.
„Sie schien sich mit solchen Aktionen
auszukennen“, fügte ich hinzu. „Hat wohl immer in der Angst vor Erpressung
gelebt. Das Geld, das bei Barton gefunden wurde, stammt aus ihrer Tasche. Als
sie vor dem Verräter ihres Immer-Noch-Geliebten stand, hat sie rot gesehn und
geschossen.“
„Sie vergessen den Schalldämpfer“, erinnerte
mich Covet. „Wenn jemand so’n Ding auf einen Revolver setzt, läßt das auf
vorsätzlichen Mord schließen.“
„Nicht unbedingt“, widersprach ich. „Das war
doch wohl der Revolver, den sie ihrem Geliebten weggenommen hat... aus lauter
Liebe. Sie hat die Waffe wie eine Reliquie aufbewahrt. Die Idee, den
Schalldämpfer abzumontieren, ist ihr überhaupt nicht gekommen. Warum sollte sie
auch? Sie hat ihn ja sogar draufgelassen, um ihren letzten Willen zu vollstrecken.
Im allgemeinen ist es Selbstmördern egal, ob sie bei ihrem Abgang Krach machen
oder nicht…“
„Bleibt aber trotzdem die Tatsache, daß sie
bewaffnet zu Barton gegangen ist“, beharrte Covet.
„Reine Vorsicht“, konterte ich. „Erpresser sind
keine Chorknaben, auch wenn sie drohen, bei Nichterfüllung ihrer Bedingungen zu
singen.“
Mein Freund schüttelte skeptisch den Kopf.
„Man geht zu einem Erpresser, um zu zahlen oder
um ihm die Fresse zu polieren. Nicht mit beiden Absichten gleichzeitig.“
„Wenn einem die Nerven flattern wie dieser Frau,
dann denkt man nicht so logisch wie Sie jetzt. Man steckt das Schweigegeld
ein... und dazu eine
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