Nestroy-Jux: Ein Wiener Kaffeehauskrimi (German Edition)
Fuß, aber unlängst ist mir
jemand nachgegangen. Ich habe heute die ganze Zeit überlegt, ob ich es der Polizei
erzählen soll. Dann habe ich mich aber doch nicht getraut.«
Toni wirkte
gelangweilt. »Und warum nicht? Hast du was ausgefressen?«, fragte er.
»Nein, aber
niemand glaubt mir, nicht einmal meine eigene Mutter. Sie sagt, ich sei überspannt.
Alles wegen dem Theater. Sie will nicht, dass ich Theater spiele. Glaubst du mir,
dass man mich verfolgt hat?«
»Klar«,
sagte Toni, ohne viel nachzudenken.
Mittlerweile
waren sie im Autobus gelandet. Obwohl Toni jetzt wieder schweigend neben ihr saß,
beschloss Anette, ihn noch einmal anzusprechen. Er war jemand, der mit ihr auf einer
Stufe stand. Sie konnte endlich das loswerden, was sie schon den ganzen Nachmittag
über loswerden hatte wollen. »Wenigstens einer«, seufzte sie erleichtert. »Du kannst
dir nicht vorstellen, was für ein beschissenes Gefühl es ist, wenn du etwas erlebt
hast, und keiner nimmt es dir ab. Du fragst dich dann, ob alles wirklich so gewesen
ist.«
Toni schien
das alles nicht sehr zu interessieren. »Es ist mir jetzt auch manchmal beim Nachhausegehen
nicht wohl zumute«, legte Anette nach.
»Hier im
Bus kann dir jedenfalls nicht viel passieren«, kommentierte Toni auf seine gewohnt
knappe Art.
»Aber es
sind dann immer noch ein paar Minuten nach Hause, da kann allerhand sein«, ließ
Anette einen Stoßseufzer los.
Wenn sie
gehofft hatte, dass Toni sie daraufhin begleiten würde, lag sie falsch. Für den
15-Jährigen schickte es sich offenbar nicht, ein 18-jähriges Mädchen alleine irgendwohin
zu bringen, ohne darum von ihr ausdrücklich gebeten worden zu sein. Somit sagte
er nur »Tschüss«, als Anette Riedl aus dem Bus ausstieg, und fand es ganz natürlich,
sitzen zu bleiben.
Sie merkte,
dass außer ihr nur ein Mann den Autobus verlassen hatte, den sie nicht kannte. Zuerst
machte sie ein paar schnelle Schritte, dann begann sie zu laufen, bis sie vor ihrer
Haustüre angekommen war.
*
Die legendäre Tarockpartie hatte
sich wieder im hinteren Bereich des Café Heller eingefunden, die beiden Billardtische
waren voll besetzt. Am Haustisch spielte Herr Heller Schach gegen Herrn Sedlacek,
dem es bis jetzt noch nie gelungen war, gegen ihn zu gewinnen. Nunmehr war er aber
soeben von einem Urlaub im Wechselgebiet zurückgekehrt und behauptete, dort von
einem anderen Urlaubsgast derart in die Feinheiten des Königlichen Spiels eingewiesen
worden zu sein, dass sich die Situation schlagartig zu seinen Gunsten ändern musste.
Auch sonst herrschte an diesem angenehmen, nach den Gewittern der vorigen Nacht
nicht zu heißen Abend reger Betrieb. Leopold hatte also ausreichend zu tun und stand
noch dazu unter genauer Beobachtung von Frau Heller, die dies mit einem lapidaren:
»Ich möchte nur schauen, ob Ihnen die Zimmerstunden gut getan haben«, kommentierte.
Es war für ihn daher nicht leicht, die wichtigsten Dinge, die er bisher über Walters’
Tod in Erfahrung gebracht hatte, zu rekapitulieren. Er versuchte es dennoch.
Erstens:
Die Rolle Glomsers. Thomas Korber war, wie die anderen auch, nach der Probe nicht mehr
ins Kaffeehaus gekommen. Aber er hatte kurz angerufen und Leopold über die wichtigsten
Details der polizeilichen Befragung informiert. Leopold wusste also, dass Freddie
Glomser dabei am härtesten hergenommen worden war. Seine Rolle bei dieser Angelegenheit
schien in der Tat interessant. Die Frage, die es zu beantworten galt, war, ob er
Walters am fraglichen Freitag vor einer Woche untertags noch getroffen hatte, und
wenn ja, warum. Sprach er die Wahrheit, oder hatte er etwas zu verbergen? Geistige
Notiz: Nachhaken!
Zweitens:
Der Name Kalbfleisch. Die Wahrscheinlichkeit, dass Walters mit seinem
richtigen Namen Kalbfleisch geheißen hatte, war hoch. Welche neuen und nennenswerten
Details aus seinem früheren Leben würden dadurch bekannt werden? Man wusste ja so
gut wie nichts über ihn. Irritierend war, dass Walters im Laufe der Zeit auch eine
Reihe anderer Namen verwendet hatte. Inwieweit konnte das von Bedeutung sein? Jedenfalls
musste Leopold auch Oberinspektor Juricek von dieser Entwicklung in Kenntnis setzen,
denn die Polizei hatte hier eindeutig mehr Möglichkeiten als er. Geistige Notiz:
Was Juricek betrifft, morgen ist auch noch ein Tag. Es kommt ja das Wochenende.
Drittens:
Der Buchstabe ›S‹. Walters hatte den Eintrag ›S ansprechen‹ auf einem Zettel notiert,
den Stössl nun in seiner Mappe
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