Nestroy-Jux: Ein Wiener Kaffeehauskrimi (German Edition)
Bildungskarenz oder einen Sonderurlaub
nehmen müssen. Keinen einzigen Arbeitstag habe ich deswegen versäumt. In den dunklen
Büroräumen des Wiener Rathauses hat sich mir das Licht der Gestirne offenbart. Wenn
die Aktenlage besonders trostlos war, habe ich einfach ein Buch aufgeschlagen und
darin gelesen. Später mit Computer und Internet ging natürlich alles leichter. Heute
bin ich froh, diese Fortbildung genossen zu haben. Ich habe dadurch vielen anderen
Menschen gegenüber einen großen Vorteil: Ich weiß genau, wann und woran ich sterben
werde.«
»Ist das
denn wirklich schon so sicher?«
»Ich bin
jedenfalls davon überzeugt. Du kannst den Weltuntergang ja ruhig verdrängen, wenn
du willst. Die meisten Menschen verdrängen den Gedanken an ihren eigenen Tod. Wenn
sie sich vorstellen, dass es plötzlich aus sein könnte, bekommen sie alle möglichen
Zustände. Darüber bin ich längst hinweg.«
»Das erinnert
mich an diese Gruppe, von der Sie mir gestern aus der Zeitung vorgelesen haben«,
lenkte Leopold das Gespräch jetzt mühelos in die von ihm gewünschte Richtung. »Diese
… na, wie heißen sie doch gleich?«
»Confessions
Anonymous? Anonyme Bekenntnisse?« Herr Otto fuhr von seinem Weinglas hoch.
»Ja, genau!
Die leben doch auch von der Todesangst der Menschen, davon, dass die Leute mit sich
ins Reine kommen wollen, bevor es zu spät ist.«
»Da ist
was Wahres dran! Natürlich verschafft ihnen die derzeitige Endzeitstimmung einen
enormen Boom«, sinnierte Herr Otto. »Dabei handelt es sich um einen ganz einfachen
psychologischen Trick. Die meisten Leute können ihre kleinen Schweinereien nicht
für sich behalten. Sie bekommen Schuldgefühle, und dann muss alles raus. Viele haben
aber niemanden, dem sie sich anvertrauen können. Sie brauchen ein Ventil. Genau
davon profitiert so ein Verein, von dem Bedürfnis, sich anderen gegenüber anonym
›outen‹ zu können.«
»Wie funktioniert
denn so etwas?«
»Du bist
interessiert? Hast du vielleicht auch irgendwo eine Leiche im Keller liegen?«
»Nein, aber
seitdem ich das Inserat gestern gesehen habe, bin ich einfach wahnsinnig neugierig.
So ein Verein ist doch eine verrückte Idee. Da möchte ich mehr darüber wissen.«
»Viel weiß
ich auch nicht«, gestand Herr Otto. »Ich habe nur gehört, dass es sich um eine teure
Angelegenheit handelt. Die offizielle Betreuung kostet ja nichts, damit die Anonymität
gewahrt bleibt. Man bekommt ein Gespräch mit einem Geistlichen oder einem Psychologen.
Aber wenn man den Kick einer sogenannten Präsentation möchte, und das wollen anscheinend
die meisten, muss man eine Spende für einen guten Zweck hinlegen, in bar, und die
ist nicht von schlechten Eltern.«
»Ist man
dort wirklich die ganze Zeit anonym? Wie soll denn das gehen? Weiß man gar nicht,
wer da hingeht?«, drängte Leopold.
»Wie gesagt,
so genau kenne ich mich auch nicht aus.« Herr Otto schaute irritiert zum Fenster
hinaus, wo gerade ein wahrer Wolkenbruch niederging. Sein festgefügter Tagesplan
schien tatsächlich ins Wanken zu geraten. Dabei fiel ihm etwas ein. »Allerdings
kenne ich jemanden, der mehr darüber weiß«, sagte er. »Davon erzähle ich dir aber
erst, wenn du mir einen Schirm leihst.«
Leopold
deutete auf einen Schirmständer und zwinkerte Herrn Otto zu. »Alles erstklassige
Ware aus zweiter Hand, vergessen und nicht abgeholt.«
»Na schön«,
nickte Herr Otto zufrieden. »Welche Gründe du auch immer haben magst, dich für diese
Gruppe zu interessieren: Ein ehemaliger Arbeitskollege von mir, der Herr Roland,
kann dir wahrscheinlich weiterhelfen. Was ich weiß, hat er mir seinerzeit erzählt.
Seine Nichte arbeitet nämlich bei den anonymen Bekennern als Sekretärin und Buchhalterin.
Du findest ihn meistens im ›Weinreberl‹ vorne auf der Prager Straße.«
»Und wann?«,
ließ Leopold nicht mehr locker.
Herr Otto
blickte noch einmal in den Gewitterregen, der draußen gerade alles unter Wasser
setzte, dann auf den Schirmständer, dann auf seine Uhr. »Das Lokal sperrt um drei
Uhr nachmittags auf«, stellte er fest. »Da ist er für gewöhnlich schon dort. Ich
komme nach einer kleinen Zwischenstation auch in etwa um diese Zeit dorthin. Du
kannst uns gerne Gesellschaft leisten, Leopold. Ich hoffe nur, dass ich die Zeit
bei diesen Unbilden der Witterung einhalten kann.« Er suchte sich einen Schirm aus,
bestellte danach jedoch unter weiteren Klagen über die bedauerliche Wetterlage,
die seinen gesamten Tagesverlauf
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