Nestroy-Jux: Ein Wiener Kaffeehauskrimi (German Edition)
nicht«, gab Anette
zu. »Aber ich würde mich dann viel wohler fühlen. Und wenn nichts ist, bin ich auch
nie wieder lästig.«
»Hast du
wenigstens einen Schirm mit?«, fragte Korber. Er wusste immer noch nicht, was er
tun sollte.
»Nein!«
Anette schüttelte den Kopf. »Aber wenn wir uns beeilen, geht es sich noch vor dem
Gewitter aus.«
Korber ging
automatisch los. Anette hatte Schwierigkeiten, Schritt mit ihm zu halten. »Das Furchtbarste
sind diese ständigen Zweifel«, redete sie ungeniert weiter, während sie sich auf
die Bushaltestelle zu bewegten. »War alles wirklich so, wie man es erlebt hat? Die
anderen sagen, es kann nicht so gewesen sein, und im eigenen Hirn laufen immerzu
die gleichen Bilder ab. Man kann sich doch nicht so täuschen, oder?«
»Sinneseindrücke
sind flüchtig, und wir täuschen uns ständig«, versuchte Korber, eine Antwort zu
finden.
»Aber worauf
kann man sich dann verlassen? Braucht man für alles jemanden, der einem etwas bestätigt?
Irgendwie müsste doch die eigene Urteilskraft genügen.«
»Ich würde
mir an deiner Stelle einmal überlegen, warum dich jemand verfolgen sollte«, gab
Korber zu bedenken, während sie in den Autobus einstiegen.
»Wenn ich
das wüsste«, beteuerte Anette. »Dann hätte ich zumindest Gewissheit, was los ist.
Zuerst habe ich gedacht, es will mich wer vergewaltigen. Ich glaube, das kommt einer
Frau automatisch als Erstes in den Sinn. Aber ein Vergewaltiger macht es doch immer
so, dass er einen erwischt. Also muss es etwas anderes sein. Wahrscheinlich will
mir jemand Angst machen oder so ähnlich.«
»Und woher
weiß dieser Jemand, wann und wo er dir auflauern soll?«
»Keine Ahnung!«
Korber begann
nachzudenken. »Könnte es sein, dass diese ›Verfolgungen‹ im Zusammenhang mit dem
Tod von Herwig Walters stehen?«, mutmaßte er.
»Warum?«
»War nur
so ein Gedanke! Eins steht jedenfalls fest: Die Leute von unserer Theatergruppe
wissen derzeit am besten, wann du dich auf den Heimweg machst.«
»Aber was
für einen Grund gäbe es dafür? Dass die Bachmann-Schwestern mich nicht leiden können?
Oder dass der Toni Haslinger ein wenig durchgeknallt ist? Das wird’s doch auch nicht
sein, oder?«
»Da kann
ich dir leider nicht weiterhelfen«, gestand Korber. »Wenn es einen Grund gibt, solltest
in erster Linie du ihn wissen.«
»Das ist
alles reichlich kompliziert«, seufzte Anette. »Und das Problem besteht darin, dass
ich mir manchmal selbst nicht mehr glaube. Kann es eigentlich sein, dass man etwas
völlig anders im Gedächtnis behält, als es wirklich gewesen ist? Oder dass man sich
an gewisse Dinge nicht mehr erinnert, die man getan hat?«
Sie stiegen
bei der Haltstelle aus. »Ich bin kein Experte«, beteuerte Korber. »Das fällt in
das Aufgabengebiet eines Psychiaters oder eines Psychologen.« Er sah besorgt zum
Himmel hinauf. Von einem Verfolger keine Spur, dafür blitzte und donnerte es bereits
beachtlich. Das Gewitter würde sich demnächst entladen, und er würde wohl seinen
Teil abbekommen.
»Hast du
dir über solche Sachen eigentlich schon einmal Gedanken gemacht?«, redete Anette
unbeirrt weiter, während die ersten Tropfen fielen.
»Nein«,
kam es leicht genervt von Korber.
»Es ist
jedenfalls seltsam. Bis jetzt habe ich über so etwas noch nie nachgedacht, aber
derzeit gehen mir diese Dinge nicht aus dem Kopf. Was ist, wenn ganze Teile unseres
Lebens anders abgelaufen sind, als wir sie zu kennen glauben?«
Während
Anette so vor sich hin quasselte, öffnete der Himmel seine Schleusen. Von einem
Augenblick auf den anderen begann es, kräftig zu schütten. »Lauf«, rief Korber ihr
zu. Sie rannten zur nächsten Hauseinfahrt und stellten sich unter.
»Was wissen
wir schon von unserer Kindheit? Das, was wir erzählt bekommen«, nahm Anette ihren
Faden wieder auf. Das Wasser tropfte ihr dabei von den Haaren, und ihr T-Shirt und
ihre Hose waren völlig durchnässt. »Aber hat sich alles wirklich so zugetragen?
Das ist eine wichtige Frage. Unser Gedächtnis kann uns nicht dabei helfen, sie zu
beantworten. Wir haben bloß Ahnungen und Gefühle. Dabei ist es ein so wichtiger
Lebensabschnitt.«
Korber hörte
Anettes Ausführungen nur mehr mit einem Ohr zu. Er zeigte auch kein Interesse an
ihren jetzt deutlich erkennbaren kleinen Brustwarzen. Seine Gedanken kreisten alleine
um das Problem, wie er halbwegs trocken nach Hause kommen konnte. »Hoffentlich ist
in nächster Zeit wieder alles halbwegs normal«, hörte er sie sagen.
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