Netha-Chrome
an.
„Du willst, dass ich deine Waffe nehme?“, fragte sie verdutzt. Ein Duster gab niemals seine Waffe ab. Diesen Leitsatz kannte auch Ti. Aber ich erinnerte mich daran, die Sixton schon öfters in einer brenzligen Situation aus der Hand gegeben zu haben. An das Wann und Wieso konnte ich mich nicht mehr erinnern. Aber ich wusste, dass ich keine andere Wahl gehabt hatte. Und nun hatte ich auch keine andere Wahl. Ich konnte Tijuana nicht unbewaffnet lassen. Ich hatte meinen kugelsicheren Mantel und meinen frisierten, kybernetischen Arm, auf die ich mich im Notfall verlassen konnte. Tijuana hingegen trug Zivilklamotten, die ihr keinerlei Schutz boten.
„Nimm sie schon, bevor ich es mir anders überlege!“, knurrte ich. Tijuana nahm die Waffe so vorsichtig an sich, als sei sie eine giftige Schlange.
„Danke, Sergeant“, sagte sie leise und checkte ganz instinktiv das Magazin.
Nach ein paar weiteren Minuten Fußmarsch reckten sich schon die Glastürme der Stadt direkt vor uns in die Höhe. Von den Menschenmassen, die sonst immer vollkommen geordnet durch die Straßenschluchten wanderten, war nicht mehr viel übrig. Die wenigen Passanten, die noch auf der Straße waren, irrten vollkommen ziellos umher, riefen um Hilfe, schrien und weinten. Zahlreiche Fensterscheiben waren eingeworfen, Plünderer machten sich daran, die Geschäfte auszuräumen. Schüsse hallten durch die Gassen, Sirenen von entfernten Einsatzfahrzeugen dröhnten in weiter Ferne. Ich hielt nach Einsatzagenten Ausschau, fand aber keinen einzigen.
„Bemerkenswert, wie schnell die Grundordnung zugrunde gehen kann“, bemerkte Sydney mit Blick auf das Chaos vor uns. Ich für meinen Teil fand es alles andere als bemerkenswert. Ich fand es erschreckend. Ich wusste nicht genau, wie lange der Stream schon inaktiv war, aber übermäßig lange konnte es noch nicht sein. Die Stadt hatte sich also binnen kürzester Zeit in ein Schlachtfeld verwandelt, auf dem jeder tat, was ihm gerade in den Sinn kam.
Neben uns trat eine Gruppe junger Leute aus einer Seitengasse und schlich mit starren Blicken an uns vorbei, während Tijuana und Sydney sie mit den Läufen ihrer Waffen verfolgten. Einen von ihnen hielt ich fest und fragte, ob einer von ihnen wüsste, was passiert sei. Aber ich bekam weder eine Antwort noch irgendeine Reaktion. Der Junge riss sich einfach los und ging weiter.
„Scheiße Sergeant“, fluchte Tijuana, als die Gruppe, ohne uns beachtet zu haben, einfach weiterzog. „Das hier ist wie in Zombie Apocalypse . Nur das ich keine Kettensäge zur Hand habe.“
Ich schaute sie an und zuckte die Achseln. Von diesen pubertären HoloVend-Spielen hatte ich keine Ahnung und wollte auch keine Ahnung haben. Die Realität war meistens schon blutig genug. Da musste ich mich nicht noch in eine Pixelwelt aus gebündeltem Licht stürzen, um Zombies abzumurksen. Andererseits war das Chaos um uns herum so surreal, dass es auch gut und gerne ein Holo-Programm hätte sein können. War es aber nicht.
„Hier gibt es bestimmt Läden, in denen du dir eine klauen könntest“, lächelte ich. Tijuana lächelte zurück und schon hatte sich ihre Miene wieder etwas aufgeheitert.
„Ich hoffe doch nicht, dass Sie sich den Plünderern anschließen wollen, Arkansas“, mischte sich Sydney ein. Ich sah sie an. Ihre wachsamen Blicke verfolgten gerade eine Gruppe von Männern, die schwarze Kisten aus einem Geschäft schleppte. Ihre Waffe hielt sie dabei fest umklammert.
„Sydney!“ Keine Reaktion. Ich schnippte vor ihrer Nase mit den Fingern und endlich schaute sie mich an. „Ich weiß, dass Sie am liebsten ihren Bullen-Trieben nachgehen und diese Bande verhaften würden. Aber ich glaube, wir haben andere Probleme. Außerdem sind Sie kein Straßen-Cop.“
„Ich bin Agentin des MSS. Ich bin für die Sicherheit der Bevölkerung zuständig. Egal, für welche Abteilung ich arbeite.“ Ich seufzte.
„Wenn es Ihnen gegen den Strich geht, uns zu begleiten, und Sie lieber den einsamen Helden spielen wollen, dann…“
„Nein, schon in Ordnung. Sie haben Recht. Ich bin alleine und kann mich nicht auf Verstärkung verlassen. Es wäre töricht, diese Straftaten intervenieren zu wollen.“ Eine kurze Weile blieben unsere Blicke aneinander haften. Ich spürte, dass uns etwas verbunden hatte, bevor wir unser Gedächtnis verloren hatten. Erinnerungsfetzen kamen zurück. Gefühle, die so wirr waren, dass ich ihnen keine Bedeutung zuordnen konnte.
Ich wandte die Blicke von der KI ab
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