Nett ist die kleine Schwester von Scheiße
Leben eindeutig mehr Sinn als die richtige Kleidung, ein teures Auto oder ein eigenes Haus. Ein charmanter Mensch weiß natürlich, was am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit und auf dem gesellschaftlichen Parkett von ihm gefordert wird – denn er hat ja eine hohe emotionale Intelligenz –, aber er kümmert sich nicht wirklich darum, denn er ist überzeugt, dass die Welt bei ihm eine Ausnahme machen wird, da er eine sehr viel wichtigere Botschaft zu verkünden hat.
So ein Lebensthema kann ganz unterschiedlich aussehen: Bei dem unbestritten charmanten Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki ist es der Kampf um literarische Qualität – und dieser Kampf bringt es mit sich, dass Reich-Ranicki nicht immer höflich sein kann.
Klaus Kinski wurde des Öfteren wütend, wenn er seinen künstlerischen Ausdruck in Gefahr sah. Doch hatte der charismatische Schauspieler Verehrer in der ganzen Welt, denn Kinski schrie den Leuten oft schlicht und einfach die Wahrheit ins Gesicht.
Natürlich gibt es noch weitaus mehr und ganz verschiedene Lebensthemen. So geht es Gregor Gysi, dem ehemaligen Parteivorsitzenden der Linken, zum Beispiel darum, sich überall und stets mit den Anwesenden so gut wie möglich zu unterhalten und diese für sich einzunehmen – auch seine politischen Gegner. Und weil ihm das Gemochtwerden ebenso wichtig ist wie seine politischen Ambitionen – und er das im Gegensatz zu Guido Westerwelle, der ebenfalls von jedem gemocht werden will, auch weiß –, ist er charmant. In den 1950er-Jahren hätte er mit dieser Einstellung allerdings kein Politiker werden können, denn damals wurden politische Reden immer noch so zackig-herb gehalten wie zur Zeit der Wochenschau .
Ein sehr schlichtes, als politisches Anliegen getarntes Lebensthema hatte Andreas Baader, einer der führenden Köpfe der RAF: Er wollte berühmt werden. Dafür steigerte er sich in seine Ansichten hinein und konnte aufgrund seiner Begeisterung und Radikalität auch andere Leute von ihnen überzeugen. Der Schriftsteller Thorwald Proll beschreibt seinen ehemaligen Freund und kurzzeitigen Kampfgefährten folgendermaßen: »Er war ein Verführer, er konnte Menschen mitreißen. Außerdem war er anmaßender als andere, unverschämter. Er fasste dich beim Reden an und schaute dir ins Gesicht. Er war ein bisschen aufdringlich und kam dir auch körperlich sehr nah. Das hat die Leute beeindruckt, manchmal auch beengt. Aber er war immer sehr charmant. Ja, Charme ist der richtige Ausdruck.«
Dem intelligenten, charismatischen Andreas Baader konnten damals weder Frauen noch Männer widerstehen, viele verliebten sich in ihn. Oft bedachte er sie mit beißendem Spott, aber das tat ihrer Liebe zu ihm keinen Abbruch.
Politiker mit Charisma
sind keine guten Demokraten.
----
Weil zum Charme oder Charisma das Übertreten von gesellschaftlichen Konventionen zwangsläufig dazugehört, verwundert es, dass in den Medien von verschiedenen Seiten mehr charismatische Politiker gefordert werden. Sicher würden charismatische Politiker das Unterhaltungsbedürfnis ihrer Wähler mehr befriedigen. Sie versorgen ihr Publikum mit großen Gefühlen, denn bei ihren Reden können die Menschen mitfiebern, begeistert sein, jubeln, weinen. Charismatische Politiker erinnern daran, dass es in der Welt darum geht, etwas zu bewegen. Und ihre Zuhörer konsumieren diese zur Schau getragenen Gefühle gerne, schließlich kommt so etwas in ihrem Alltag nur selten vor.
Doch was bedeutet es, wenn ein charismatischer Politiker viele tausend Menschen davon überzeugen kann, dass gerade sein persönliches Thema groß und bedeutend, ja vielleicht am allerwichtigsten auf dieser Welt ist? Was, wenn der Kampf gegen Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung, für Frieden und Freiheit ihn und ebenso seine Anhänger adelt? Wird dann nicht auch automatisch alles für gut und richtig erachtet, was für dieses Ziel unternommen wird? Vielleicht ist diese Sache auch so wichtig, dass dafür Dinge zu tun sind, die nur mehr schwer als legal bezeichnet werden können – oder vielleicht gar nicht mehr.
Mit Charme erhebt man sich
über die Konvention,
mit Charisma über das Gesetz.
----
Mit einem charismatischen Politiker werden viele Hoffnungen verknüpft. Max Weber unterscheidet in seinem Vortrag Politik als Beruf (1919) den pragmatischen vom charismatischen Politiker: Der charismatische Politiker kann viele Menschen für seine Ideen begeistern und mobilisieren, er wird von seinen Anhängern
Weitere Kostenlose Bücher