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Nett ist die kleine Schwester von Scheiße

Nett ist die kleine Schwester von Scheiße

Titel: Nett ist die kleine Schwester von Scheiße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Niazi-Shahabi
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wirklich einem authentischen Bedürfnis entspricht oder nur dazu dienen soll, andere zu provozieren oder zu beschämen. Auch macht es einen Unterschied, ob jemand auf Nachfrage des Gastgebers gesteht, dass ihm das Essen nicht schmeckt, weil er damit zeigen möchte, dass er sich bei ihm sicher genug fühlt, um ehrlich zu sein, oder ob jemand prinzipiell herummeckern muss.
     
Die Show muss echt sein, um zu wirken!
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    Es empfiehlt sich beispielsweise nicht, Pit, einen unbestreitbar charmanten Berliner Opernsänger, nachzuahmen, denn damit würde man sicher einige Sympathien in seinem Bekanntenkreis verspielen: Pit, homosexuell, laut, verschwenderisch und immer pleite, hat zu seinen Lebzeiten konsequent sämtliche gesellschaftliche Regeln ignoriert. Während Theateraufführungen schrie und rülpste er oder schlief ein. Bei seiner Arbeit als Empfangschef in einem Hotel erschien er geschminkt und im Pelzmantel. Seine Sprache war bisweilen vulgär, und er behauptete von jedem Mann, der ihm über den Weg lief, mit ihm geschlafen zu haben – was in den seltensten Fällen der Wahrheit entsprach. Noch dazu war dies kein Kompliment für den Betroffenen, denn Pit war weder jung noch schön. Er lieh sich Geld und gab es für Abendessen und Teenachmittage mit Freunden aus. Wer mit ihm irgendwo hinging, etwa zu einer Premierenfeier oder einer Vernissage, musste damit rechnen, im Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit zu stehen, denn Pit pflegte lauthals Frisuren, Outfit und Auftreten der Anwesenden zu kommentieren – ein eigentlich unmögliches Betragen. Dennoch: Als er 2006 starb, waren Eva Matthes, Angela Winkler und andere Berliner Prominenz auf seiner Beerdigung. Und seitdem treffen sich Freunde und Verehrer einmal im Jahr an seinem Todestag, um seiner zu gedenken. Obwohl er nicht mehr lebt, ist er der Mittelpunkt eines Kreises, der aus Balletttänzern, Regisseuren, Diplomatengattinnen, Immobilienmaklern, Arbeitslosen, einem Psychiater, einer Hotelkauffrau und einem Millionär besteht. Sie alle vermissen ihn, denn Pit war einzigartig.
     
    Aber kann jemand wie Pit seinen Charme bewusst einsetzen, also auf Knopfdruck an- und abschalten? Wohl ja, aber nicht so, wie sich das uncharmante Leute vielleicht vorstellen. Es genügt keinesfalls, bewusst bestimmte Gesten auszuführen oder sich für den Fall der Fälle originelle Wortbeiträge zurechtzulegen, ein professioneller Zugriff auf das unkontrollierbare und oft nicht societygemäße Innenleben gehört zum Erzeugen von Charme unabdingbar dazu.
     
Charmante Menschen wissen alles über sich
und viel über die anderen.
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    Menschen, die über Charme verfügen, wissen mehr über sich selbst und gleichzeitig auch mehr über ihre Zeitgenossen. Im Laufe ihres Lebens vergrößern sie ihren Vorsprung in puncto Menschenkenntnis auch noch gegenüber anderen. Denn charmante Persönlichkeiten haben mehr Freundschaften und Beziehungen als andere, darüber hinaus lernen sie diejenigen, mit denen sie zu tun haben, meist auch noch besser kennen: Offen auszusprechen, was andere eher für sich behalten, führt dazu, dass man sieht, wie andere Leute auf solche Botschaften reagieren – und das liefert wertvolle Hinweise auf deren Charakter.
    »Es bleibt nicht aus, dass ein mit Charme oder Charisma Gesegneter auf die Idee kommt, sein gewinnendes Wesen auch ab und zu zu seinem Vorteil einzusetzen«, sagt Dr. Mazda Adli. »Das ist nicht weiter schlimm, denn die anderen haben ja was davon, nämlich eine angenehme Gesellschaft. Aber auch Menschen mit einer narzisstischen Störung, wie Hochstapler u. ä., erkennen früh, was ihnen mit ihrem Charme für ein Werkzeug gegeben ist, und nutzen ihn gezielt, um andere zu manipulieren.«
     
Wer etwas Wichtiges zu sagen hat,
kann auf Manieren verzichten.
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    Charme ist auch bei nicht narzisstischen Persönlichkeiten eine kleine Form von Betrug, eine Art gespielte Unschuld, eine kalkulierte Ehrlichkeit, vielleicht am besten verkörpert in der Figur des jungen Lord Fauntleroy aus dem Film Der kleine Lord . Der hübsche, blonde Cedric Errol reagiert auf die Kaltherzigkeit seines Großvaters Earl of Dorincourt stets mit Fröhlichkeit und Offenherzigkeit. Und scheint dabei nicht zu bemerken, dass der Großvater ihn nicht als rechtmäßigen Erben anerkennt, weil er aus einer nicht standesgemäßen Ehe seines jüngsten Sohnes mit einer Näherin stammt. Die Näherin, die geliebte Mutter, darf das Anwesen des Großvaters nicht einmal betreten. Doch all das

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